Leseabenteuer

Schauerliches aus Spanien

Von Gregor Ziolkowski · 02.12.2013
Ein Schneesturm im Sommer, ein abgelegener Gasthof und eine alte Gruselgeschichte: Aus diesen Zutaten mixt Javier Fernández de Castro einen spannenden Plot - über dem ein kaum zu lösendes Rätsel schwebt.
Schauergeschichten gehören in Spanien zum kulturellen Volksgut. Wenn Derartiges zur Inspirationsquelle für Literatur wird, wenn sich also das überlieferte Rätselhafte und ein fein und genüsslich zugreifender Gestaltungswille begegnen, darf man sich auf ein Leseabenteuer freuen, das man am besten im geräumigen Sessel und im Fokus einer Leselampe genießt, ein wärmendes Plaid ganz in der Nähe für die Momente, wenn die Schauer beginnen, eine Gänsehaut hervorzubringen.
Zwei Motorradfahrer, unterwegs im gebirgigen Norden Spaniens, werden im Hochsommer von einem ungewöhnlichen Wetterphänomen überrascht: EinSchneesturm von imposanter Heftigkeit zwingt sie, in einem abgelegenen Gasthof Zuflucht zu suchen. So wie ihnen ergeht es anderen Reisenden oder Ansässigen, man richtet sich ein und improvisiert ein Abendessen am heimeligen Kamingrill, an Vorräten herrscht zum Glück kein Mangel. Ein spät Hinzugekommener bringt dann die beunruhigende Nachricht. In einem Nachbarort wurde – unter abenteuerlichen Umständen – einFohlenmitglutrotemFellgeboren. Die Aufregung, die diese Nachricht auslöst, teilt sich den beiden Zufallsgästen sofort mit, eine spürbare Unruhe erfasst alle Versammelten, ein Unheil kündigt sich an.
Auf magische Weise vollzieht sich eine dunkle Weissagung
Einer der Anwesenden beginnt, die Geschichte dieser Unheilsahnung zu erzählen. Sie reicht Jahrhunderte zurück und hat mit einem ehrgeizigen und hochfahrenden Adeligen zu tun, der wegen eines nicht realisierten Großprojekts – ein angekündigter Kanal zwischen Flandern und Spanien – seinen König beleidigte und bitter dafür büßen musste. Zurückgekehrt in jene Gegend, war er ein gebrochener Mann, der auf einer glutroten Stute durch die Lande zog, dabei Hass, Missgunst, Gewalt unter die Leute brachte. Diese Binnenerzählung zieht sich wiederkehrend durch die Haupthandlung, in der es kaum weniger turbulent zugeht.
Denn hier geraten, bedingt durch die Wehen der Frau des Gasthofbesitzers, die eben noch fröhlich Tafelnden in einen Strudel der Ereignisse, der sie letztlich zu Verdächtigen macht, die von der Polizei verfolgt werden. All dies, zwischen Schmuggelverdacht, womöglich politisch motivierter Renitenz und anderen Verdachtsmomenten, löst sich schließlich ebenso auf wie das sommerliche Unwetter. Die Motorradfahrer setzen ihre Reise fort, aber auf eine geradezu magische Weise vollzieht sich eine dunkle Weissagung, die der Rätselhaftigkeit eines einzigen Satzes an diesem Unwetterabend im Gasthof einen tiefen Sinn zu verleihen scheint.
DasSchauerliche, betrachtet als ein realistisches Subgenre, wird in diesem Roman zu einer freudvoll zelebrierten Inszenierung. Verliebt in alle Details seiner Erzählung, ob sie nun Speisen und Getränke, Gesten, Handlungen oder Landschaften betreffen, hingerissen auch von einer unbändigen Lust am perfekten Ineinanderfügen der Erzählelemente, gelingt Javier Fernández de Castro ein Text von zeitloser Stimmigkeit, über dem ein kaum zu lösendes Rätsel schwebt: Könnte es sein, dass hinter unserem bewussten Tun und den zahlreichen Zufälligkeiten des Lebens etwas unabänderlich Vorherbestimmtes, ein Schicksal, steht?

Javier Fernández de Castro: Die berauschende Wirkung von Bilsenkraut
Aus dem Spanischen von Timo Berger
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013
140 Seiten, 15,90 Euro