Lernen von der Natur

07.08.2012
Nur wer Wildnis unter freiem Himmel mit dem eigenen Körper erkundet, könne andere Lebensformen begreifen und schützen, meint der Biologie-Didaktiker Gerhard Trommer. In "Schön wild!" plädiert er dafür, Kinder schon früh an die Natur heranzuführen.
Nach einem verheerenden Waldbrand im Yellowstone Nationalpark resignierten die Parkmanager und überließen die verbrannte Erde sich selbst. Bald schon reckten Weidenröschen blühende Köpfe ans Licht und Gräser krochen zwischen den verkohlten Baumstämmen hervor.

Wildnis ist ungehorsam und unberechenbar - nur wenn wir lernen, die anarchistische Seite der Natur wieder zuzulassen, werden wir ihr auch wieder vielschichtig begegnen können. Dafür plädiert der Biologie-Didaktiker Gerhard Trommer in seinem klugen Büchlein "Schön wild!". Nicht einzugreifen, Stürme und Feuer, Vulkanausbrüche und sogar die Massenentwicklung von Schädlingen zuzulassen - alles das helfe Naturräumen, sich aus eigener Dynamik zu entwickeln.

Allerdings hielte es der Autor für falsch, die Natur wie ein unantastbares Heiligtum auf einen Sockel zu heben. Das sei eine absurde Dichotomie: Auf der einen Seite Naturschutzgebiete, in denen Kinder nicht einmal mehr einen Frosch in die Hand nehmen oder einen Bach stauen dürften - für den Nachwuchs früherer Generationen eine aufregende und lustvolle Selbstverständlichkeit - , auf der anderen Seite die Ödnis forstwirtschaftlich genutzter Wälder, mit Bäumen, die wie Soldaten in Reih und Glied stehen, jeder zweite mit kalten Leuchtschrift-Markierungen zum Abholzen freigegeben.

Immer wieder weitet der Autor sein Thema aus, betrachtet Naturschutzkonzepte in unterschiedlichen Ländern und formuliert politische Forderungen. Sein zentrales Anliegen aber bleibt die individuelle Begegnung mit der Natur. Leidenschaftlich spricht sich Gerhard Trommer gegen eine zunehmend abstrakte und theoriebeladene Heranführung junger Menschen an die Biologie aus. Nur wer Wildnis unter freiem Himmel mit dem eigenen Körper erkunden dürfe, könne andere Lebensformen begreifen, interpretieren und schützen.

Wie sehr dabei seelische Tiefenschichten angesprochen werden können, erzählt der Autor in leisen, persönlichen Passagen. Einmal verirrt er sich mit seinen Enkelkindern im Moor, Dunkelheit bricht ein und eine beängstigende Seite der Natur taucht auf. Oder rührt sie aus der eigenen Psyche? In einer anderen Episode möchte er Studierende hinter die "Brotgrenze" führen, jene magische Grenze, hinter der es keinen Supermarkt um die Ecke, keine Schnellversorgung per Imbissbude mehr gibt. Bis nach Nord-Skandinavien muss er die jungen Menschen mit ihren Zelten und Proviant-Rucksäcken lotsen, denn in Deutschland ist eine "Brotgrenze" nirgendwo mehr zu finden.

In der Stille der norwegischen Gebirgssteppe bittet er die Studierenden, Tagebuch über ihre Erfahrungen zu führen. "Weiter, einfach nur weiter", notiert einer in seinem Heft. Ein anderer empfindet in der weiten Landschaft "ein Gefühl von Ewigkeit". Ein Dritter vermerkt erstaunt, dass er keine Langeweile mehr verspürt. Jeden Augenblick will er leben und in sich aufsaugen. Auch sehr schlichte Notizen tauchen auf: "Ich habe Wasser aus einem Bach getrunken."

Besprochen von Susanne Billig

Gerhard Trommer: Schön wild! - Warum wir und unsere Kinder Natur und Wildnis brauchen
oekom Verlag, München 2012
191 Seiten, 12,95 Euro


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