Lernen lernen

"Streng dich in der Schule an, sonst findest du später keinen guten Job" - diese Mahnung hören immer mehr Kinder. Der Druck auf die Schüler wächst, und viele versuchen ihre Noten durch Nachhilfe zu verbessern.
Schätzungen zufolge nehmen 30 bis 40 Prozent aller Schüler in Deutschland Nachhilfe, in den oberen Klassen büffelt je nach Fach jeder zweite Schüler mit Privatlehrer. Eltern lassen sich den erhofften Schulerfolg einiges kosten: 1500 Euro geben sie pro Schuljahr und Kind im Schnitt aus, der Umsatz der Branche beläuft sich auf rund eine Milliarde Euro. Und der Markt boomt: Es gibt mehr als 3000 kommerzielle Anbieter - dazu kommen ungezählte private Angebote: Schüler, Studenten, auch Lehrer, die darin einen lukrativen Nebenjob sehen.

Was läuft falsch im deutschen Schulsystem, dass bei so vielen Schülern ohne Nachhilfe nichts mehr geht?

"Nachhilfe ist ein Pflaster für das Schulsystem", sagt Swantje Goldbach. Die ehemalige Lehrerin gründete 1998 das "Lernwerk" in Berlin, eine Reformnachhilfeschule, die das Lernen lernen in den Vordergrund stellt und bereits mehr als 8000 Kinder betreut hat.

Ihr Ansatz: "Grundsätzlich, dass wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Wir betreuen die Kinder im Einzelunterricht, um ihnen Techniken zu zeigen, wie sie individuell lernen können. Zum Beispiel durch Lernen und Werken, viele Kinder lernen eher durch bewegen und fühlen. Zusätzlich bieten wir, wenn wir merken, es hapert überall, ein intensives Lernen-lernen-Training."

Ihre Überzeugung: "Kein Schüler will ein schlechter Schüler sein."

Weder in der Schule noch im "Lernwerk" solle das reine Büffeln im Vordergrund stehen. Ihr geht es darum, die Persönlichkeit des Kindes zu erkennen und zu fördern. Die Schule schere die Kinder zumeist über einen Kamm, zudem sei viel zu wenig bekannt, dass es verschiedene Lerntypen gibt, die einen individuelleren Unterricht benötigen. Schon Grundschulkinder würden viel zu stark in Terminpläne eingetaktet. Durch den steigenden Leistungsdruck würden letztlich auch zu viele Kinder in Gymnasien eingeschult, die dafür schlicht nicht geschaffen seien.

"Wir versuchen, den Eltern zu helfen, ihr Kind zu verstehen, dass sie nicht permanent versuchen, bessere Leitungen abzufordern. Ich höre oft: ´Mein Kind leistet in der Schule nicht das, was ich mir erwartet habe`. Und dadurch kommt es oft zum Streit. Wenn ich es schaffe, diesen Streit zu vermeiden, ist schon viel getan.""

Ihre Mahnung: "Ein Kinderleben ist nicht dazu da, Erfolge zu haben."

"Ohne kommerzielle Nachhilfe würde das jetzige deutsche Schulsystem vermutlich gar nicht funktionieren", betont der Schulpädagoge Prof. Dr. Ludwig Haag von der Universität Bayreuth. Der ehemalige Lateinlehrer und Schulpsychologe beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit dem Thema Nachhilfe.

Warum ist Nachhilfe so erfolgreich?

"Da nenne ich nur ein Schlagwort: Individuelle Förderung. Das ist doch ein Trauerspiel in der Schule! Wir haben nicht gelernt, mit heterogenen Klassen umzugehen. Wir brauchen individuelle Förderung mit einem Differenzierungsangebot und zwar im Unterricht, nicht nachmittags. Der Regelunterricht ist unsere Crux: Wie schauen unsere Hausaufgaben aus? Alles Gießkanne! Alle kriegen das Gleiche auf, wir tun so, als ob alle Schüler gleich wären. Aber was nützt eine Mathehausaufgabe, wo ich als Lehrer weiß, die können die Schüler nicht lösen? Aber die Show muss ja weitergehen …"

Das Verhältnis Schüler-Lehrer spräche für sich: In der Nachhilfe kämen auf einen Lehrer maximal Schüler, in Schulklassen säßen mittlerweile 30 bis 35 Schüler – da sei individuelle Förderung schier aussichtslos.

Seine Analyse: "Die Schule ist ein Ort der Chancenzuweisung. Es gab und gibt immer Eltern, die wollen ihre Kinder nach vorn bringen. Und wir können die Platzierung von Kindern durch Nachhilfe verändern."

Die Zweiklassen-Bildung sei längst Realität.

"Schule war schon immer ein Politikum und das wird auch immer so sein. Wir müssen uns frei machen von diesen egalitären Gedanken. Alles ist doch mittlerweile käuflich …Die Realität ist doch: Ich kann mir für 40 Euro einen Studienrat leisten, wenn mein Bub schlecht ist in Latein. Was ist denn nicht käuflich in diesen Zeiten? Das ist eine nüchterne, aber keine neue Erkenntnis."

"Lernen lernen – Warum benötigen so viele Kinder Nachhilfe?"
Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit Swantje Goldbach und Prof. Dr. Ludwig Haag. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet:
Lernwerk
Prof. Dr. Ludwig Haag