Lernen

Kaltstart im Klassenzimmer

Ein Schüler einer dritten Klasse der Evangelischen Grundschule in Frankfurt (Oder) meldet sich beim Deutschunterricht, aufgenommen am 14.01.2009.
Schule: In so genannten Willkommensklassen lernen Flüchtlingskinder Deutsch. © dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Von Christina Rubarth |
Aus Syrien, aus dem Irak oder aus Afrika kommen Flüchtlingskinder nach Deutschland und landen in überfüllten Wohnheimen. In kleinen Klassen sollen sie innerhalb von zehn Monaten Deutsch lernen, damit sie anschließend eine normale Schule besuchen können. Eine kaum lösbare Aufgabe.
Begrüßung: "Ich heiße Ayat, äh, ich wurde in Syrien geboren, meine Schule steht in Berlin." - "Richtig. Wie alt bist du?"
Hilfesuchend dreht sich Ayat zu ihrer großen Schwester Alaa neben ihr. Doch die zuckt nur mit den Schultern.
"Ich bin 50 Jahre alt, und du bist?" - "Ich bin 13 Jahre alt." - "Super!"
Begrüßungsrunde. Sommer 2012: Ein Klassenzimmer in einem grau-grünen Betonbau in Berlin-Lichtenberg. Die Schwestern aus Syrien, beide im Kopftuch, lernen erst seit ein paar Wochen Deutsch. Ihre Heimatstadt ist Damaskus, ihre Muttersprache Arabisch.
"Ich spreche vor, ihr sprecht nach. So, der erste Buchstabe: A" - "A" - "Ananas" - "Ananas ..."
Die Lehrerin der Willkommensklasse - eine Klasse für Flüchtlingskinder, die erst vor kurzem in Berlin angekommen sind: Saskia Demke. Sie tut das, was die Jugendlichen in der neuen, ungewohnten Stadt am meisten brauchen: Sie lehrt sie sprechen. Sie stellt sich vor Musto in der ersten Reihe: ein Junge mit erstem Bartflaum. Aus dem Irak.
"Und Ü" - "Ü" - "Übung" - "Übung" - "Das war klasse heute, richtig gut. Prima, Musto!"
Saskia Demke: "Es geht eigentlich um das komplette Leben dieser Kinder. Ihnen ein Zuhause zu geben, ihnen was beizubringen und ihnen auch Mut zu machen, dass sie etwas leisten können später."
Die beiden Schwestern Alaa und Ayat aus Syrien, die Brüder Musto und Aziz aus dem Irak, oder Omar aus Gambia, machen es ihr leicht, sagt sie.
Wie jetzt, wenn sie still über ihren Matheübungen sitzen. Vierzehn-, Fünfzehn, Sechzehnjährige. Ein Alter, das sonst kaum zu bändigen ist. Hier fragen die Schüler sogar nach Extra-Hausaufgaben. Saskia Demke kümmert sich gemeinsam mit ihrer Kollegin Dagmar Hafemeister um die Schüler aus den umliegenden Wohnheimen. Streng aber herzlich.
"Achtung! Ich rede und kein anderer. Punkt."
Sie lernen Deutsch, aber alles andere?
Die Schüler aber in zehn Monaten fit zu machen für den Unterricht an einer normalen Schule: eine kaum lösbare Aufgabe. Das wissen beide.
Dagmar Hafemeister: "In der Zwischenzeit schreitet die Zeit fort, die Kinder werden immer älter und haben letztendlich vom Fachwissen her wenig gelernt. Das heißt also, wenn sie jetzt wirklich in eine normale Klasse integriert werden, können sie vielleicht Deutsch sprechen, aber alles andere nicht."
"Auf Wiedersehen!" - "Bis morgen!" - "Einen schönen Tag noch."
"Hast du eine Freundin - und wenn ja, erzähl' uns mal etwas über sie!" - "Sie heißt Samira, sie wohnt in Syrien, sie ist 14 Jahre alt."
Anderthalb Jahre später: Zurück im Lichtenberger Klassenzimmer. Aus den Lernanfängern vom Herbst 2012 sind Jugendliche geworden, die sich verständigen können, vormittags in ganz normale Schulen gehen. Einmal die Woche kommen sie freiwillig, ihr Deutsch zu verbessern. Auf dem Lehrplan: Freies Sprechen.
"Hast du denn in Deutschland auch schon eine Freundin gefunden?" - "Ich hab eine Freundin, ja und sie heißt Anne, wir sind in einer Klasse. Und äh...sie ist 14 Jahre alt und sie mag kein Sport." - "Nein?" - "Nein."
Nach der Willkommensklasse kämpft sich Ayat jetzt durch den Deutsch-Förderunterricht. Ihr Ziel ist das deutsche Sprachdiplom. Sie will Abitur machen, studieren, Pharmazeutin werden.
Dagmar Hafemeister: "Wenn man sie so hört, sie sprechen ein sehr ordentliches Deutsch, grammatikalisch, finde ich. Was sie sprechen, fand ich, hört sich schon richtig gut an. Und wenn man dann merkt. Das haben sie bei uns gelernt! Ach, das ist so schön!"
"Hier! Pünktlich sein!"
Gabi Giesen - die dritte der Lehrerinnen - klopft auf die Tafel: Vorprüfung zum Deutschen Sprachdiplom steht in weißer Kreide auf dunklem Grün, Rot unterstrichen. Vor ihr fummeln Ayat und Liana aus dem Kaukasus ihre Kugelschreiber aus den Etuis. Alaa fehlt, sitzt mit einem gebrochenem Bein Zuhause.
"Wir schreiben heute einen Test - das ist die Vorprüfung zur Vorprüfung (lacht). Wir schreiben nämlich nächste Woche die Prüfung und wollen dann entscheiden, wen wir zum deutschen Sprachdiplom zulassen - und wen nicht."
"Und es geht los, ab jetzt: 45 Minuten!"
Jetzt findet Ayat die richtigen Wörter
Ayat unterstreicht Schlüsselwörter im Übungstext, kämpft sich von Aufgabe zu Aufgabe.
Plakate hängen jetzt an den Wänden, die vor anderthalb Jahren noch nackt waren. Fotos, kurvenreich ausgeschnitten und auf Karton geklebt, blumenumrankt: Sport mit Kopftuch und langer weißer Strickjacke über enger Jeans. Die Schwestern Alaa und Ayat beim Volleyball, die Jungs beim Fußball. "ich glücklich viel!" steht daneben und "ich durstig!".
Ayat drückt sich an die Fensterscheibe in der Tram nach Hause - jetzt findet sie die richtigen Wörter, fängt an zu erzählen. Von der Angst zu Hause in Damaskus, vom Vater, der seit ein paar Jahren schon in Deutschland arbeitet, von den Nächten als der Krieg längst bei ihr angekommen ist, sie nicht schlafen kann.
Ayat: "Und die Flugzeug war die letzte, ja, die in Deutschland kommt von Syrien. Das war so schwer und so Angst. Im Flugzeug ich habe nur zwei Minuten geschlafen, nur zwei Minuten."
Ende Juni 2012 holt ihr Vater die Familie zu sich nach Berlin.
Ayats Mutter, ihre Schwester Alaa und Baby Rimas erwarten sie mit Kuchen und Teigtaschen, selbstgemacht, mit Spinat gefüllt. Cola steht auf dem Couchtisch, der Fernseher läuft.
Stolz ist die Mutter, etwa Mitte 30, auf ihre Töchter. Sie selbst spricht so gut wie kein Deutsch. Manchmal aber verliert sich ein deutsches Wort in ihre arabischen Sätze.
Und nur mit gutem Deutsch - das weiß auch sie - haben ihre Töchter eine echte Chance in Deutschland.