Lenins erste Reise nach dem Tod
In bester russischer Tradition des Absurden erzählt Julia Kissina in ihrem Buch „Vergiss Tarantino“ fantastische Geschichten. In einer davon will ein Filialleiter einer Supermarktkette den einbalsamierten Leichnam von Lenin ausstellen.
Jetzt ist es also klar. Jeder fragt sich irgendwann mal, wie man den Plural von Jesus bildet. Es ist: Jesusse. Die russisch-ukrainische Schriftstellerin Julia Kissina legt in „Vergiss Tarantino“ vor Fantasie nur so sprudelnde Geschichten vor und in einer davon taucht ein doppelter Jesus auf. Einer der beiden ist erschöpft von einer langen jenseitigen Reise, „sieht zwanzig Jahre älter aus“ und sagt nur noch: „Liebe ist Hysterie!“. Die angesprochene Lena ist begeistert. Einer von gleich zwei Jesussen, der über die Liebe sagt, sie sei Hysterie.
In einer weiteren Geschichte von Julia Kissina hat der Filialleiter einer Supermarktkette nicht nur eine besondere Liebe zur russischen Sprache. Er geht viel, viel weiter: Er will in seinem Laden die einbalsamierte Leiche von Lenin ausstellen. Seine russische Kundin Julia findet die Idee nicht schlecht, bestellt bei einer deutschen Institution eine finanzielle Förderung, weil sie das Ganze geschickt als schrille russisch-deutsche Kunstaktion verkauft, bittet Russlands Präsidenten und Deutschland-Freund Putin um Hilfe, der sie nur zusagt, wenn eine enorme Geldsumme fließt und sieben Kampfhubschrauber zur Verfügung gestellt werden.
Die Geldsumme holt sich der Filialleiter bei Islamisten, mit denen er wochenlang Backgammon spielen muss, um sie sich zu Freunden zu machen. Sie erhoffen sich von der Aktion vielleicht eine Art Destabilisierung des Kapitalismus, wer weiß. Leider müssen wir jetzt abkürzen: Lenin tritt tatsächlich die erste Reise nach seinem Tod an, landet endlich im Supermarkt, der russische Botschafter hält eine Rede, für einen Vertreter der UNO ist die Aktion eine Geste des Humanismus und dem langsam aufwachenden Lenin wird schmerzlich klar, dass seine kommunistischen Träume ausgeträumt sind – und er stirbt ein zweites Mal.
So sind sie – die Geschichten der Julia Kissina: Russische Absurditäten treffen auf deutsche Sachlichkeit. Ein großer Spaß! Wenn nicht auch viel Tragik und Traurigkeit in diesen Geschichten stecken würden, die von einer für die russischen Helden in diesen Erzählungen kalten Welt berichten, von abweisenden Menschen, von Klischees über Russland, die sie ertragen müssen, von dem Gefühl, fremd zu sein und fremd zu bleiben.
Julia Kissinas fantastische Geschichten gehen nie so weit, dass sie konstruiert wirken – ganz im Gegenteil, sie sind gelebte Tagträumereien in einer durchrationalisierten Gesellschaft, die Kissinas Fantasie allerdings als verspinnert abtun würde.
Die junge Autorin, die seit 16 Jahren in Deutschland lebt, hier Kunst studiert hat und bisher als Aktionskünstlerin aufgetreten ist, legt mit „Vergiss Tarantino“ ihr erstes Buch vor, das in bester russischer Tradition des Absurden steht und dabei jenen Zynismus vermeidet, den viele ihrer jungen russischen Schriftstellerkollegen an den Tag legen.
Julia Kissina erzählt amüsant und unangestrengt die erstaunlichsten Geschichten.
Julia Kissina: Vergiss Tarantino
Aus dem Russischen von: Ganna-Maria Braungardt
Erschienen bei: Aufbau-Verlag
Gebunden, 208 Seiten, 16,90 Euro
In einer weiteren Geschichte von Julia Kissina hat der Filialleiter einer Supermarktkette nicht nur eine besondere Liebe zur russischen Sprache. Er geht viel, viel weiter: Er will in seinem Laden die einbalsamierte Leiche von Lenin ausstellen. Seine russische Kundin Julia findet die Idee nicht schlecht, bestellt bei einer deutschen Institution eine finanzielle Förderung, weil sie das Ganze geschickt als schrille russisch-deutsche Kunstaktion verkauft, bittet Russlands Präsidenten und Deutschland-Freund Putin um Hilfe, der sie nur zusagt, wenn eine enorme Geldsumme fließt und sieben Kampfhubschrauber zur Verfügung gestellt werden.
Die Geldsumme holt sich der Filialleiter bei Islamisten, mit denen er wochenlang Backgammon spielen muss, um sie sich zu Freunden zu machen. Sie erhoffen sich von der Aktion vielleicht eine Art Destabilisierung des Kapitalismus, wer weiß. Leider müssen wir jetzt abkürzen: Lenin tritt tatsächlich die erste Reise nach seinem Tod an, landet endlich im Supermarkt, der russische Botschafter hält eine Rede, für einen Vertreter der UNO ist die Aktion eine Geste des Humanismus und dem langsam aufwachenden Lenin wird schmerzlich klar, dass seine kommunistischen Träume ausgeträumt sind – und er stirbt ein zweites Mal.
So sind sie – die Geschichten der Julia Kissina: Russische Absurditäten treffen auf deutsche Sachlichkeit. Ein großer Spaß! Wenn nicht auch viel Tragik und Traurigkeit in diesen Geschichten stecken würden, die von einer für die russischen Helden in diesen Erzählungen kalten Welt berichten, von abweisenden Menschen, von Klischees über Russland, die sie ertragen müssen, von dem Gefühl, fremd zu sein und fremd zu bleiben.
Julia Kissinas fantastische Geschichten gehen nie so weit, dass sie konstruiert wirken – ganz im Gegenteil, sie sind gelebte Tagträumereien in einer durchrationalisierten Gesellschaft, die Kissinas Fantasie allerdings als verspinnert abtun würde.
Die junge Autorin, die seit 16 Jahren in Deutschland lebt, hier Kunst studiert hat und bisher als Aktionskünstlerin aufgetreten ist, legt mit „Vergiss Tarantino“ ihr erstes Buch vor, das in bester russischer Tradition des Absurden steht und dabei jenen Zynismus vermeidet, den viele ihrer jungen russischen Schriftstellerkollegen an den Tag legen.
Julia Kissina erzählt amüsant und unangestrengt die erstaunlichsten Geschichten.
Julia Kissina: Vergiss Tarantino
Aus dem Russischen von: Ganna-Maria Braungardt
Erschienen bei: Aufbau-Verlag
Gebunden, 208 Seiten, 16,90 Euro