Leitfigur des Neorealismus

Von Ruth Jung · 09.09.2008
Das Bemühen um Worte, die den Nächsten erreichen, und um eine poetische Sprache, um die Falschheit der Verhältnisse aufzudecken und die Einsamkeit des Menschen zu überwinden - diese Kennzeichen machten den Schriftsteller Cesare Pavese in der Kriegs- und Nachkriegszeit zu einem radikalen Neuerer der italienischen Literatur und zur Leitfigur des Neorealismus.
"Worte sind unser Handwerk (…) Worte sind zarte, gebrechliche und lebendige Gebilde. Sie sind für den Menschen gemacht, nicht aber der Mensch für sie."

Cesare Pavese über die Aufgabe der Schriftsteller. Das Bemühen um Worte, die den Nächsten erreichen, um eine poetische Sprache, die es vermag, die Falschheit der Verhältnisse aufzudecken und die Einsamkeit des Menschen zu überwinden, kennzeichnet diesen radikalen Neuerer der italienischen Literatur.

Geboren am 9. September 1908 als fünftes Kind eines kleinen Beamten in Santo Stefano im piemontesischen Hügelland, wurde Cesare Pavese der Schriftsteller der Stadt Turin. Angezogen von der Industriemetropole und ihren Menschen, schrieb er sich an der dortigen Universität für Literaturwissenschaft ein und promovierte 1932 mit einer Arbeit über den amerikanischen Dichter Walt Whitman.

Als Student brachte er sich selbst Englisch bei und begann mit der Übersetzung moderner amerikanischer Autoren. Der für sein enormes Arbeitspensum bekannte junge Mann machte Melville, Faulkner, Hemingway und Dos Passos in Italien bekannt. Italo Calvino erinnert sich an den Freund und Mentor:

"Mein literarisches Turin bestand vor allem aus einer Person, der nahe zu sein ich einige Jahre das Glück hatte (…). Von grundlegender Bedeutung war mir das Beispiel, dass er mit seiner Arbeit gab, (…) dass man bei ihm sehen konnte, wie die Kultur des Literaten und die Sensibilität des Dichters sich in produktive Arbeit umsetzten, in Werte, die dem Nächsten zur Verfügung gestellt werden (…)."

Kennengelernt hatten sich die beiden Schriftsteller beim Verlag Einaudi, wo Pavese als Lektor die ersten Arbeiten des 15 Jahre jüngeren Calvino begutachtete. Im Jahr 1933 von Giulio Einaudi, Natalia Ginzburg und Cesare Pavese gegründet, entwickelte sich der Turiner Verlag bald zum geistigen Zentrum des anderen Italien - eines Italien, das sich dem Faschismus entgegenstellte.

Ziel war es, der Propaganda der Faschisten eine zivilisierte, humane Sprache entgegenzusetzen. "Rückkehr zum Menschen" nannte es Cesare Pavese in einer programmatischen Rede, die zum Manifest des italienischen Neorealismus wurde:

"Wir werden nicht unter das Volk gehen. Denn wir sind bereits Volk (…). Wenn schon, dann gehen wir unter Menschen. Denn die Einsamkeit des Menschen - unsere Einsamkeit und die der anderen - ist das Hindernis, ist die harte Schale, die durchbrochen werden muss (…). Unsere Aufgabe ist schwierig, aber in ihr ist Leben. Es sind Menschen, die unseren Worten Gehör schenken, arm wie wir, wenn wir außer Acht ließen, dass Leben Gemeinschaft ist."
Wegen angeblicher kommunistischer Umtriebe wurde Pavese 1935 verhaftet und zu acht Monaten Gefängnis und anschließender Verbannung nach Kalabrien verurteilt. Nach der Rückkehr zog sich der asthmakranke Dichter in die innere Emigration zurück. Anders als Calvino kämpfte er nicht aktiv in der Resistenza.

Er verarbeitete die Erfahrung von Faschismus, Krieg und Entfremdung in seiner kargen verhaltenen Sprache. 1936 erschien die erste Gedichtsammlung: Lavorare stanca. Es sind einfache Menschen, deren Leben er beschreibt. Oft sind es Frauen, die sich ihrer Einsamkeit in einer männerdominierten Gesellschaft bewusst werden.

Die in den 40er Jahren entstandenen Romane - so die Turiner Triologie, für die Pavese den angesehenen Literaturpreis Premio strega erhielt - zählen zu den Hauptwerken des Neorealismus. In seinem Tagebuch Das Handwerk des Lebens schrieb er:

"Das schreckliche Gefühl, dass alles, was man tut, verdreht und verstellt ist, das Gegebene wie das Gedachte. Und nichts kann Dich daraus erretten, weil Du weißt, wozu auch immer Du Dich entscheidest, alles, auch Deine Entscheidung selbst, ist entstellt."

Ein Lebensgefühl, das sich Ende der 40er Jahre noch verdichtet. Persönliche Niederlagen, aber auch der Verrat an der Hoffnung auf radikal veränderte gesellschaftliche Verhältnisse in Italien lassen den empfindsamen Dichter verstummen: Am 27. August 1950 nimmt sich Cesare Pavese in einem Turiner Hotelzimmer das Leben - so wie es auch Rosetta getan hat, die Hauptfigur im Roman Die einsamen Frauen, der 1955 von Michelangelo Antonioni verfilmt worden ist.