Leistungsdruck im Konzertsaal

Mit Beruhigungsmittel auf die Bühne

Tabletten
Beruhigungsmittel © imago/blickwinkel
Von Christoph Richter · 14.03.2018
Durchfall und Brechreiz – der Fußball-Profi Per Mertesacker hat in einem Interview offen formuliert, was der Leistungsdruck mit ihm macht. Stress und Erwartungsangst kennen auch Orchestermusiker. Viele brauchen eine Therapie.
Der Mund wird trocken, die Hände zittern. Schweißausbrüche, Brechreiz und Herzrasen: So fühlt es sich für die Münchner Musikerin Konstanze an, wenn sie ein Solo spielen soll. Ihren richtigen Namen und noch nicht 'mal ihren Wohnort darf die Öffentlichkeit erfahren, weil ihre Karriere dran hänge, wie sie sagt. Kurz bevor der Dirigent den Taktstock hebt, um ihr den Einsatz zu geben, ist es um sie geschehen:
"Also ich habe während eines Konzertes, eine Stelle verlassen müssen. Wusste nicht mehr, wo ich war. Der Dirigent wurde puterrot und ich musste aussteigen und konnte nach einer gefühlten Ewigkeit erst wieder einsteigen…"
Selbst leichte Konzerte wurden für Konstanze zur Qual. Bis sie zu Hilfsmitteln griff, zu Pillen, erzählt sie:

"Eines dieser Medikamente ist natürlich der klassische Beta-Blocker, der dann genommen wird, eine oder zwei Stunden vor dem Auftritt…"
Und der Berliner Helmut Möller, Psychoanalytiker und Spezialist in der Behandlung von Musikern mit Auftrittsängsten, erklärt:
"Das ist ein Medikament mit den wenigsten Nebenwirkungen, weil es ja nur verhindert, dass der Herzschlag stärker wird. Und ich dadurch auch das Gefühl habe: Ich bin ruhig und kann mich jetzt auch der Konzentration, der Musik hingeben."

Regelmäßig Beruhigungsmittel

Andere Orchestermusiker greifen zu Tranquilizern wie Valium oder Tavor. Verlässliche Zahlen gibt es kaum, doch die Dunkelziffer sei alarmierend. Sie pendelt zwischen 30 und 50 Prozent aller Orchestermusiker, die vor dem Auftritt regelmäßig Beruhigungsmittel einnehmen, so der Berliner Psychiater Möller.
Ein alter Musikerwitz: Wer von Musikern ein richtiges Tremolo oder Vibrato bekommen wolle, müsse nur "Solo" über die entsprechenden Noten schreiben, und schon bekomme man das große Zittern. Klingt lustig, ist aber für die betroffenen Musiker ein Drama. Und in der Öffentlichkeit ein Tabuthema:
"Und dann war es so, dass ich das dann von der Bühne mitgenommen hab, nach Hause. Nachts im Bett bin ich dann hoch geschreckt, mit 140 Puls. Meine Frau wollte mich ins Krankenhaus bringen, es war grauenhaft. Und dann hab ich den Zusammenhang herstellen können. Und hab dann gemerkt, hoppla, ich hab das ja auf der Bühne."
Bernhard Läubin, 53 ist Trompeter beim Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg. Er ist einer der Wenigen, der offen über seine Auftrittsängste spricht. Selbst leichte Konzerte gingen nicht mehr, erzählt er:

"Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen und das zu bearbeiten. Glücklicherweise habe ich das ohne Medikamente geschafft. Viele Kollegen, das weiß ich, versuchen das mit den Beta-Blockern. Mir scheint das keine sinnvolle Angelegenheit, weil es nur das Symptom des erhöhten Pulsschlages bearbeitet."

Beruhigt, aber oft auch zu sehr ruhig gestellt

In manchem Geigenkasten findet man wie selbstverständlich die rosa Pillen, Beta-Blocker. In diversen klinischen Studien wird die Einnahme der Beta-Blocker aber höchst kritisch gesehen. So sind die Reaktionsschnelligkeit, die Wahrnehmungsfähigkeit durch Beta-Blocker ebenso beeinträchtigt. Musiker berichten von Kurzatmigkeit, Schlafstörungen, Ohrensausen sowie depressiven Verstimmungen.
In die Praxis von Psychoanalytiker Helmut Möller, Experte in Sachen Auftrittsangst, kommen ausschließlich Berufsmusiker. Darunter sind auch Instrumentalisten des vielleicht weltbesten Orchesters, der Berliner Philharmoniker. Eine weitere Berufsgruppe sind Selbständige, die sich auf dem freien Markt behaupten müssen:
"Ich teile eigentlich die Musiker in drei Kategorien ein. Das ist ein Drittel, die sehr stark unter den Auftrittsängsten leiden und immer wieder auch eine emotionale oder eine psychotherapeutische oder auch eine medikamentöse Unterstützung bräuchten. Und dann gibt es ein Drittel, die können das relativ gut kompensieren, es kommt dann seltener zu Ausfällen. Und dann gibt es das Drittel, das relativ stabil ist, was sagt, ich kann diesen Beruf ohne große Ängste tatsächlich durchführen und ich kann mich auf das Podium setzen. Aber: Nicht vergessen, dass sie alle das Phänomen Lampenfieber haben. Nochmal: Lampenfieber, die Steigerungsform ist Aufführungsangst, die ja dann pathologisch werden kann."
Auftrittsängste sind jedoch nichts Neues. Die Liste prominenter Namen ist lang. Zum Beispiel Martha Argerich: Bei ihr wusste man nie, ob sie sich nicht noch kurz vor dem Konzert krank meldete. Oder Claudio Arrau. Er musste sich einer Psychoanalyse unterziehen, um überhaupt weiter Konzerte geben zu können. Besonders litt der italienische Tenor Enrico Caruso. Sein deutscher Agent Emil Ledner berichtete, dass er sich hinter der Bühne regelmäßig übergeben musste.
Für die leistungsmindernden Aufführungsängste gibt es mehrere Gründe. Heute sind es hauptsächlich die spieltechnischen Erwartungen, die das Publikum an Solisten, der Dirigent an das Orchester stellt:

"Das Problem ist ja, dass bei einer CD die Illusion verkauft wird, dass hier fertige Kunst existiert. So ein Schwachsinn, so was Blödes, deswegen gehören alle Tonträger verboten. Weg. Zerstören."

So der etwas unkonventionelle – wenn auch nicht ganz ernst gemeinte Vorschlag – von Andreas Moritz. Orchestermanager der Komischen Oper in Berlin.
"Weil es ja die absurde Situation vorgaukelt, dass hier Kunst fertig ist. Was nichts mit Kunstfertigkeit zu tun hat. Nee, es ist doch charmant wenn man da den Faden aufgreift und sagt: 'Liebe Leute, falls hier ein Missverständnis vorliegt, begeistern wir euch 'mal mit etwas anderem, nämlich wir begeistern euch mit etwas, das gar nicht fertig ist, dass wir ständig im Prozess sind."

Offen darüber reden

Schwäche zugeben, positiv denken, sich eingestehen, dass Fehler erlaubt sind: Offen drüber reden, empfiehlt auch Psychiater Helmut Möller. Neben den durchaus üblichen Entspannungsübungen wie Yoga, dem Autogenen Training oder der Progressiven Muskelrelaxation, ein Verfahren, bei dem durch die bewusste An- und Entspannung bestimmter Muskelgruppen ein Zustand tiefer Entspannung des ganzen Körpers erreicht werden soll, bekommen Übungen aus der Sportpsychologie, die Arbeit von Mentaltrainern in Orchestern eine immer größere Bedeutung.
Konstanze – die noch immer Mittelchen braucht, um auftreten zu können, um ihrer Auftrittsangst Herr zu werden, gibt aber allen noch eine Empfehlung mit auf den Weg: Niemals alleine versuchen, das Problem zu lösen, sagt sie. Stattdessen unverkrampft Hilfe holen, zu Profis gehen:
"Was ich jedem sagen würde, ist: Musikalische Situationen zu suchen. Wo man mit Leuten, mit denen man sehr gut arbeiten kann, schöne Konzerte macht. Immer wieder schöne Konzerte machen. Mit Leuten, mit denen man offen und ehrlich umgehen kann. Kammermusik machen. Und dort wieder das musikalische Erlebnis suchen. Auftreten, auftreten, auftreten. Und nicht immer auf das Große starren, wo die große Leistung erwartet wird. Sondern da hineinzugehen, mit dem Fundus den man gemacht hat, in der kleineren Besetzung, in der kleineren Gruppe, dort wo man beglückende Erlebnisse gehabt hat."
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