Leise Erinnerung

Vorgestellt von Geert Müller-Gerbes · 05.02.2006
Die Literatur über Willy Brandt füllt ganze Bibliotheken, Regalbretter biegen sich unter dem Erdrusch aller jener Schreiber, die zwischen Buchdeckeln versuchen, hinter das Geheimnis dieses neben Adenauer wohl größten Politikers des 20. Jahrhunderts zu kommen.
Wer die Wahrheit oder gar eine endgültige Antwort sucht, der blättert in all diesen Folianten, auch in den eigenen Erinnerungen Brandts, vergeblich.

Da kommt auf leisen Sohlen ohne große Ankündigung ein Buch daher über Willy Brandt, geschrieben von seinem mittleren Sohn Lars, das den Titel trägt "Andenken". Den Umschlag ziert die Abbildung einer Lackdose feinster russischer Handarbeit, ein Geschenk Breschnews an den Vater, mit einem Bildnis eines überirdisch schönen Mannes - Willy Brandt.

Sohn Lars, ein schweigsamer, stiller, bedächtiger Maler, der sehr zurückhaltend lebt, zeichnet in diesem Buch ein Bild seiner selbst und seines Vaters, den er immer nur V. nennt. Voller Wärme und Liebe, voller Verständnis für die Eigenarten des Vaters. Und er stellt sich in jedem Satz, in jedem Kapitel vor den Menschen, der sein Vater ist. Und er weist alle jene in die Schranken, die zu wissen glauben, wer Brandt war:

"Die ihm einen Spitzel in den Pelz setzten, waren erklärte Feinde, aber manchem, der sich (weil ihm die Krokodilstränen einfach nicht trocknen wollen) bis heute als Freund aufspielt, lässt dieser Verrat offenkundig keine Ruhe — er setzt alles daran, ihn noch zu übertreffen. Resultat seltsamer Gefühlsverquirlung, wie es scheint … Für mich war V. weder Freund noch Feind. Er war Natur.

Ich beteilige mich nicht an einer Geschäftigkeit, die sich kaum noch auf Gedächtnis und Forschung beschränkt, sondern längst Oper, Fernsehspiel und Theater einschließt. Warum eigentlich nicht auch Ballett, Musical, Eisrevue? Nur nicht auf halber Strecke stehen bleiben. Dazu die passenden Pralinen, wie zu Mozarts Gedenken, ein Wodka mit seinem Namenszug auf der Flasche, statt dem des Abstinenzlers Gorbatschow, oder vielleicht ein nach ihm benanntes Hacksteak?"

Es fängt in Berlin an, das Aufschreiben des Andenkens an V., und Lars Brandt zeichnet auch scheinbare Kleinigkeiten minutiös nach:

"Zum Zeichen, dass er es geschafft hatte, gewöhnte er sich schon in Berlin ab, eine Armbanduhr zu tragen und ein Portemonnaie zu benutzen. Anfangs flogen noch ein paar Münzen in seiner Hosentasche herum. Irgendwann ließ er auch die fort. Dass er als Kanzler eine Packung Zigaretten selber kaufte, ist wenig wahrscheinlich."

Schon als Kind hat Lars Brandt erkannt, dass sein Vater hilflos war, verschlossen gerade auch im familiären Umfeld und doch auch machtbewusst. In literarischer Form, die das ganze Buch kennzeichnet, liest sich diese frühe Erkenntnis, durch spätere lange Erfahrung des Umganges des Sohnes mit dem Vater vertieft, dann so:

"Hätte man diesen Menschen von seinen Widersprüchen befreien wollen, wäre wenig von ihm übrig geblieben. Sie schlagen auf das Bild durch, das man sich von ihm macht. Wie wenig passen die Mosaiksteine zueinander, aus denen sich sein Porträt zusammensetzt. Die Widersprüche aber binden die so uneinheitlich: bunten Steine erst zusammen. Sogar goldene sind darunter. Will man ihr Schimmern wahrnehmen, muss man das Heterogene, Gebrochene, den inneren Gegensatz als Batterie begreifen, zwischen deren Polen sich Spannung aufbaut."

Wer also war dieser Mann? Wer wirklich eine Antwort will, muss zu diesem Buch greifen. Es erscheint, von Seite zu Seite deutlicher, ein Mensch, der Einsamkeit sucht und gleichzeitig darunter leidet, der leidenschaftlich gern angelt und nicht nur für Fotografen die Angelschnur ins Wasser hält, der in dem Haus, das seine Familie in Bonn bewohnt, das kleinste Zimmerchen benutzt, dem Mitarbeiter gleichgültig bis fremd sind, der auf einer alten Klapperschreibmaschine Texte über Texte hämmert, der seinen Sohn Lars bittet, ihm beim Abfassen von Reden zu helfen. Ein Mann also, der so ganz anders ist als das Bild hergeben kann, was die Öffentlichkeit von ihm hat. Und welche Rolle spielt Sohn Lars in diesem Vexierbild?

"Was aber ist mein Part, meine Rolle, wenn nicht in ihrem Spiel, dann in dem, das ich selber mache? Jedenfalls keine Anekdotenüberlieferung, keine Pointenfabrikation. Ich versuche, genau zu sein, genau im Hinblick auf das, worum es zwischen ihm und mir geht. Alle Fakten sind möglichst korrekt aufgeführt. Aber meine Aufgabe sehe ich nicht darin, möglichst große Halden davon aufzuschütten. Der Blick über das Terrain muss frei bleiben."

Dieser Sohn, der seinem Vater wohl innerlich am nächsten stand und der ihm auch besonders ähnlich ist, der gibt preis, was ihn im Andenken an seinen Vater bis heute und in allen Tagen der Zukunft bewegt:

"Irgendwann haben wir beide einen Pakt geschlossen, auf den wir uns trotz allem, was uns trennte, verlassen konnten. Aber wann? Beim Fischen? Beim nächtlichen Imbiss in der Küche? Im Streit? Mein Vater ist tot, mehr als zehn Jahre. Ich denke nicht sehr oft an ihn. Hin und wieder schon. Und manchmal werde ich auf ihn angesprochen. Was sage ich dann?"

Lars Brandt hat ein engagiertes, bewegendes, sehr persönliches und sehr wahres Buch auf hohem literarischem Niveau geschrieben. Fragte man ihn, für wen er es geschrieben habe, dann würde er wahrscheinlich antworten - na, für mich selbst natürlich.


Lars Brandt: Andenken
Carl Hanser Verlag,
München 2006
Lars Brandt: "Andenken" (Coverausschnitt)
Lars Brandt: "Andenken" (Coverausschnitt)© Hanser Verlag