Leipziger Allerlei
Vor Monatsfrist wurde höheren Orts noch jede Rede über Korruption als abwegig abgeschmettert, jetzt sieht Sachsen Justizminister den Rechtsstaat gar einer "ernsthaften Bewährungsprobe" ausgesetzt. Die Aktenlage ändert sich täglich, anderes nicht. Fragen, die bleiben, gehören dazu. Was ist "das besondere Leipziger Pflaster"? Kam "juristisches Mittelmaß" aus dem Westen und machte ostdeutsche Juristen "abhängig"? Was denkt der gemütliche Sachse über die da oben?
Der Leipziger und die Politik und der Sumpf
Von Ralf Geissler
Mutmaßliche Mafia-Morde, Prostituierte im Leipziger Rathaus, ein Kinderbordell, in dem hochrangige Juristen verkehrt sein sollen – jeden Tag enthüllen die sächsischen Regionalzeitungen neue Details zur Korruptionsaffäre. Das sorgt für reichlich Gesprächsstoff im Bundesland. Ralf Geißler hat sich in Leipzig umgehört.
Der Bürger, die Politik und der Sumpf - Was sagen die Sachsen zur Korruptionsaffäre?
Vor dem Gebäude der Leipziger Volkszeitung steht ein großer Glaskasten. Täglich wird hier das aktuelle Blatt ausgehängt. Die Seiten verraten neue Details in der sächsischen Korruptionsaffäre. Briefe von empörten Lesern sind abgedruckt. Sie klagen über eine selbstgerechte Justiz, undurchsichtige Seilschaften und die schleppende Aufklärung. Elmar Brähler findet dieses allgemeine Unbehagen gefährlich. Er ist Psychologe und Soziologe an der Universität Leipzig.
"Ich bin letzte Woche Taxi gefahren. Und da kam gerade ein Bericht über die Affäre, wo der Taxifahrer plötzlich unvermittelt meinte: Die Richter müssten alles ins KZ kommen."
Brähler hat vergangenes Jahr 5000 Menschen befragen lassen, wie gut sie das bundesdeutsche System finden. Nur 27 Prozent der Ostdeutschen sagten, sie seien mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Die Affäre – fürchtet Brähler – wird die Akzeptanz weiter verschlechtern.
"Bitter ist es jetzt, dass es nun ausgerechnet ein ostdeutsches Bundesland ist. Korruptionsfälle gibt es in Deutschland zuhauf. Die hat es in Frankfurt am Main gegeben. Oder auch in Köln mit irgendwelchen Geflechten von Firmen und Kommunalpolitikern. Und jetzt trifft es wieder den armen Osten. Was leicht zu der Sicht im Westen führen kann: Da geht unsere Ost-Förderung hin."
Im Kneipen-Keller Leipziger Moritzbastei sorgt sich niemand um die Ost-Förderung. Volly Tanner sitzt vor einer Flasche Bier. Tanner ist Dichter, ein Leipziger Urgestein und nennt sich Sudel-Literat. Korruption verwundert ihn nicht. Vielmehr fragt er: Warum regen sich eigentlich alle so auf?
"Der Mächtige ist prinzipiell einer, der auch Macht ausnutzt. Das ist so. Keiner in Leitungsebenen wird seine Leitungsfunktion nicht ausnutzen. Das wäre ja auch doof. Also dann wären die ja alle Jesus Christus. Das wäre ja auch öde."
An Prostituierten im Rathaus findet Tanner nichts Schlimmes. Und manche Gäste im Kneipenkeller sehen das ganz ähnlich. Abends beim Bier herrscht allgemeine Untergangsstimmung:
Claudia Mühmel: "Ich denke eher nicht, dass wir eine Aufklärung bis zu Ende kriegen. Es werden ein paar Aufklärungsansätze da sein. Und zwar in der Form, dass die Masse beruhigt ist. Man hat was getan. Wahrscheinlich wirklich nach dem Motto: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen."
Michael Schwesinger: "Korruption ist ja wie eine gute Vorspeise, wie wir immer sagen. Da mundet das Hauptgericht einfach besser. Wenn alles gut geschmiert ist und die Suppe läuft."
Elia von Scirowski: "Ich weiß nicht, ob ich mich noch richtig ärgere. Ich habe mich bei vielen Sachen schon geärgert. Man liest dann immer mehr und irgendwann ärgert man sich nicht mehr. Und ich glaub, das ist das Erschreckende an der ganzen Sache, dass man sich irgendwann nicht mehr ärgert."
Tino Bucksch ärgert sich noch. Er ist Mitglied der Leipziger Jusos – der Jugendorganisation der SPD. Tino engagiert sich aus Überzeugung. Am rechten Handgelenk trägt der 26-Jährige ein rotes Band mit dem Aufdruck "Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität". Die Affäre trifft ihn auch privat.
"Als diese ganze Sumpfgeschichte aufgekommen ist, da wurden natürlich schon im Freundeskreis und auch im Familienumfeld Witze drüber gemacht. So, wir haben es doch schon immer gesagt: Geh nicht eine Partei und mach das nicht. Die stecken sich alles nur in die eigene Tasche. Jetzt hast Du es ja schwarz auf weiß."
Tino erschreckt vor allem das Ausmaß der Korruption. Er fordert von den Jusos eine klare Distanzierung von den Verantwortlichen – auch, wenn sie aus der SPD kommen sollten.
In der Neuen Nikolaischule im Leipziger Südosten hat die Diskussion um die Korruption in Sachsen längst die Klassenzimmer erreicht. Uwe Brandt arbeitet als Lehrer für Gemeinschaftskunde.
"Ich bin frustriert, teilweise wütend, kann die Dinge nicht nachvollziehen. Zumal ich als Lehrer, der Demokratie vermitteln soll, da in einem gehörigen Dilemma bin."
Brandt beginnt seinen Unterricht gern mit einem aktuellen Thema. Er redet mit den Schülern über Zeitungsartikel. Doch zuletzt trugen ganze Seiten Überschriften wie: "Ein Sumpf und mindestens drei Tote" oder "Irgendwann packt einer aus". Kein leichter Stoff – auch für den Lehrer nicht.
"Also vorhin hat mich ein Schüler ganz konkret gefragt, wie es denn sein kann, dass jemand ins Innenministerium strafversetzt wird. Wie so was sein kann und wie das geht. Welche Antwort soll ich ihm da geben?"
Etwa fünf Prozent der Schüler sind politisch interessiert, sagt Brandt. Nicht gerade viel. Und diese fünf Prozent kommen zunehmend ins Grübeln. Die Elftklässler Lorenz und Marieluise glauben beide nicht, dass die Affäre aufgeklärt wird.
Lorenz Barbick: "Auch wenn die Akten alle veröffentlich werden würden, würde es selbst in den Akten Widersprüche geben. Das hatten wir vorhin gerade diskutiert. Dadurch dass die Richter auch noch eine Rolle gespielt haben, dass die andere freisprechen konnten, die eigentlich was Schlimmes verbrochen hatten."
Marie-Luise Drunda: "Na man könnte zwar drüber reden, aber es ändert sich ja nix. Man kann ja ihnen nicht irgendwie ihre Meinung ändern oder irgendwie da ran kommen. Klappt ja nicht."
Sogar in der Leipziger Thomaskirche wird über die Affäre gesprochen. Am Grab von Johann Sebastian Bach hat Pfarrer Christian Wolff mehrfach über Korruption gepredigt. Tenor: Hütet Euch vor Vorverurteilungen, verzagt nicht angesichts der unappetitlichen Nachrichten und zieht Euch nicht ins Private zurück, sondern mischt Euch ein.
"Die Welt verändert sich nicht dadurch, dass sich acht Politiker in einem Hochsicherheitstrakt treffen. Sondern die Welt verändert sich dadurch, dass ich als Einzelner die mir von Gott übertragene Verantwortung für die Entwicklung dieses Lebens übernehme."
Wolff ist ein einsamer Rufer. Die Bereitschaft vieler Leipziger, sich zu engagieren, hat einen Tiefpunkt erreicht. Noch vor fünf Jahren war das anders. So vieles schien möglich: Fußball-WM, Großansiedlungen von BMW und DHL. Olympia 2012. Doch die Euphorie ist einem allgemeinen Unbehagen gewichen.
Die Justiz, die Wende und Leipzig
Von Daniela Kahls
Der sächsische Sumpf - noch ist nicht klar, was an den Vorwürfen und Gerüchten dran ist. Der Justizminister Sachsens wehrt sich jedoch immer vehementer gegen pauschale Verdächtigungen seiner Justiz. Er fürchtet um das Vertrauen der Bürger in die Judikative. Dabei wird die Frage immer lauter gestellt, ob ein Teil des Problems nicht auch im Aufbau der sächsischen Justiz nach der Wende liegt.
Egal, ob man im Dresdner Amtsgericht oder im Leipziger Landgericht unterwegs ist – auf den Gängen von sächsischen Justizgebäuden kommen einem überdurchschnittlich oft bayerisch oder schwäbisch sprechende Richter oder Staatsanwälte entgegen. Kein Wunder, wurde doch nach der Wende beim Aufbau der Justiz in besonderem Maße auf Fachkräfte aus dem Westen zurückgegriffen. Von den Richtern und Staatsanwälten aus DDR-Zeiten wurden in Sachsen nur 300 übernommen. Über 700 Richter und Staatsanwälte kamen aus dem Westteil der Republik dazu. Steffen Heitmann war in dieser Aufbauzeit Justizminister in Sachsen. Und auch er sieht im Nachhinein Probleme in dieser Konstellation.
"Wir hatten eine solche Fülle an jungen Leuten, dass das unausgewogen war. Aber die Frage: was hätte man anderes tun sollen?"
Andere sehen den sächsischen Justizapparat wesentlich kritischer. Beispielsweise Matthias von Hermanni. Er hat in Leipzig den kommunalen Betrieb für Beschäftigungsförderung, kurz bfb, aufgebaut, der in den 90er bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Der bfb war ein arbeitsmarktpolitisches Experiment, in dem zeitweise bis zu 8000 Sozialhilfe-Empfänger beschäftigt waren. Unumstritten war das Projekt nie, genauso wie der Geschäftsführer Matthias von Hermanni. 1999 kam er in Untersuchungshaft. Gegen ihn wurde unter anderem wegen des Vorwurfs der persönlichen Bereicherung ermittelt. Nach einem fünf Jahre dauernden Rechtsstreit gewann er schließlich in letzter Instanz. Und seitdem hat er eine klare Meinung von der sächsischen Justiz: er hält sie in Teilen schlichtweg für überfordert mit ihrem Amt. Sie sei eine fatale Mischung aus schlecht qualifizierten Juristen aus dem Westen und alten DDR-Seilschaften, meint von Hermanni.
"Daraus ist so nen Brei entstanden. Und dieser Brei aus dem sind dann bestimmte zugegebenermaßen auch rechtswidrige Strukturen entstanden. Und die muss man jetzt aufarbeiten. Aber entscheidend ist, dass man erst mal festhält, da ist so ein Brei gewesen und dieser Brei muss jetzt mal untersucht werden."
Bestandteil des Breis sei auch, dass vor allem in den Anfangsjahren Richter und Staatsanwälte immer wieder ihre Positionen gewechselt hätten, meint von Hermanni. Dadurch hätten die jungen Juristen nie gewusst, auf welcher Seite des Systems sie sozusagen stehen. Diese Kritik hält jedoch Reinhard Schade vom Sächsischen Richterverein für unbegründet. Schade, der selbst Richter in Bautzen ist, sieht keine Probleme bei der Rollenfindung:
"Diese Art der Laufbahngestaltung ist nicht nur in Sachsen üblich, den gibt’s in Bayern oder Baden-Württemberg, also hauptsächlich in den südlichen Bundesländern ist das ganz normal. Und das hat auch Vorteile, weil dadurch natürlich der Richter weiß, wie die Arbeit des Staatsanwaltes aussieht, welche Probleme dort herrschen und umgekehrt."
Das mag ja sein, kontert da der Leipziger Notar Thomas Walter. Denn er sieht noch ganz andere Probleme. Vor einigen Jahren hatte Walter die sächsische Justiz wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verklagt. Er hat zahlreiche Prozesse, unter anderem zur Gestaltung des Notarrechts, aber auch in Immobilien-Angelegenheiten in Sachsen geführt. Im Laufe der Jahre kam Walter immer mehr zu der Überzeugung, dass Richter und Staatsanwälte nicht vorurteilsfrei agierten. Seine Klage wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung wurde zwar abgewiesen. Aber Walter ist dennoch davon überzeugt, dass in Sachsen zu viele Personen am juristischen Ruder sitzen, die dafür charakterlich nicht geeignet sind:
"Ja, ich glaube schon, dass unheimlich viele Abhängigkeiten innerhalb der Justiz bestehen. Es ist ein Karrieredenken vorhanden. Und wenn also einer der Oberen eine Parole ausgibt, dass dann allzu bereitwillig die halt nicht so Rückgratfesten Personen dem folgen und dann auch in dieser Hinsicht agieren und damit unter Umständen ein Ergebnis produziert wird, was nicht im Sinne des Rechtsstaates ist."
Die Vertreter der sächsischen Justiz reagieren auf solche allgemeinen Vorwürfe zunehmend gereizt. Sowohl Sachsens jetziger Justizminister Geert Mackenroth, als auch Steffen Heitmann, der von 1990 bis 2000 Chef der Justiz war, wollen nichts hören davon, dass zweit– und drittklassige Juristen aus dem Westen zum Problem geworden seien. So meint Steffen Heitmann:
"Ich halte das für einen diffamierenden Vorwurf, der nicht gerechtfertigt ist."
Dabei steht Steffen Heitmann quasi selbst für die politische Einflussnahme auf die Justiz. Er musste von seinem Amt zurücktreten, weil er in Ermittlungen und Prozesse gegen Politiker seiner Partei, der CDU, wiederholt eingegriffen hatte. Heitmann selbst mag darüber nicht reden, doch der Dresdner Politikwissenschaftler Professor Werner Patzelt ist der Auffassung, dass gerade Heitmann für das Lehrgeld steht, das beim Aufbau einer Justiz bezahlt werden muss. Und das sei auch noch nicht abgeschlossen, ist Patzelt gerade angesichts der aktuellen Korruptionsaffäre in Sachsen überzeugt.
"In Verwaltungsbehörden, und freilich nicht nur dort, wird das Klima von jenen geprägt, die in Führungspositionen sitzen. Der Fisch stinkt gleichsam immer vom Kopfe her. Und in Führungspositionen sitzen naturgemäß nicht neu eingestellte Mitarbeiter, sondern jene, die sich seit etlichen Jahren, sei es halt 15 oder 16 Jahren, in jenen Positionen eingerichtet haben. Das heißt, falsche Weichenstellungen bei der Personalpolitik lassen sich nur schwierig und angesichts von Skandalisierungen in Ordnung bringen. Und vielleicht wird die weitere Entwicklung dieses Skandals uns zeigen, an welchen Stellen neue Personalrochaden notwendig sind!"
Patzelt hat hier vor allem leitende Richter und Staatsanwälte im Blick, die laut den aktuellen Vorwürfen ihre Positionen ausgenutzt haben sollen. In jedem Falle ist auch der Politikwissenschaftler davon überzeugt, dass in Sachsens Justiz zurzeit eine kaum vermeidbare Folge der Wiedervereinigung zu spüren ist. Es werde in Ansätzen quasi die jüngste Justizgeschichte der neuen Bundesländer aufgearbeitet.
Das "besondere Leipziger Pflaster"
Von Alexandra Gerlach
Amtsmissbrauch, Geldwäsche, Verbindungen zur Mafia und Kinderprostitution – dies sind die Stichworte, aus denen sich die Gerüchte über Korruption in Sachsen nähren. Wenig genaues ist bekannt, aber für Polizeischutz für einige Ermittler reichte es schon. Politik, Justiz und Polizei sind ins Gerede gekommen. Der Spruch "Mein Leipzig lob ich mir" hat eine ungewöhnliche Doppelbödigkeit bekommen. Wobei es auch um Fälle in Dresden, im Vogtland, in Plauen, in Chemnitz und in Hoyerswerda geht. Aber Leipzig spielt offenbar eine besondere Rolle.
Solange die vom Landesamt für Verfassungsschutz gesammelten Informationen als "streng geheim" eingestuft werden, gedeihen die Gerüchte prächtig. Bekannt ist immerhin, dass der Verfassungsschutz seine Erkenntnisse in fünf Komplexe untergliedert hat. Ein gewichtiger Komplex trägt den Namen "Abseits" und bezieht sich auf Vorgänge, die sich in Leipzig zugetragen haben sollen, Anfang bis Mitte der 90er Jahre. Das waren wilde Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes. Im Stadtgebiet wurden von den Immobilien- und Grundstücksmaklern sowie Bauunternehmen die Claims abgesteckt. Geschäfte wurden mit hoher Dynamik, unter Zeitdruck und häufig im Verborgenen abgewickelt. Die Stadt war im Aufbruch.
Pfarrer Christian Führer: "Und wie das jetzt in den wirtschaftlichen Phasen ablief das hat man nur stückweise mitgenommen, zum Beispiel beim Pleite-Schneider, der große Immobilienkönig. Und da habe ich nur wahrgenommen, diese Dinge, die im Zusammenhang auch mit Betrieben, die platt gemacht werden sollten. Aber was sich sonst hier in Leipzig in irgendwelchen Etagen abspielte, da habe ich keine Kenntnis davon."
Offensichtlich war jedoch für Christian Führer, den Pfarrer der Nikolaikirche, dass viele der ehemaligen DDR-Bürger in der Stadt große Schwierigkeiten hatten, mit der neuen Zeit zurechtzukommen. Ost-Beamte waren verunsichert, das neue Rechtssystem mit all seinen Verordnungen und Ausführungsbestimmungen weder gefestigt noch übersichtlich, der Handlungsdruck enorm. Werte verschoben sich.
"Der jetzt kommende präsente, wohlriechende Atheismus, Materialismus, wo die neuen Kirchen und Religionsstätten wie Banken und Kaufhäuser waren, die hatten was zu bieten, die hatten was anzubieten, was vorzuzeigen, was die Kommunisten so nicht hatten. Und auf diesen Götzen sind die Leute reihenweise abgefahren."
Ein ideales Klima für rasante und auch windige Geschäfte. Hinzu kam die Verbindung westdeutscher Glücksritter mit ostdeutschen SED-Seilschaften. Auch hier musste der Pfarrer der Nicolaikirche in den Jahren nach der Wende schmerzliche Erfahrungen in Leipzig machen:
"Zum Beispiel die sogenannten NSW-Kader, Leute, die vom Sozialismus aus im Westen waren mit den Betrieben, das waren 180-prozentige, nur die durften fahren. Und jetzt war hier großes Erschrecken, als die westlichen Betriebe sich nicht schämten mit den selben Leuten weiter zu arbeiten. Nach dem Motto: 'die sind karrierebewusst und anpassungsfähig' – na, das wussten wir schon immer, ich nenn es ein bisschen prosaischer 'Prinzip Fettauge': Ich schwimme immer oben, egal, wie die Brühe unten drunter heißt, Rot, Grün, Braun, wie auch immer."
Diese Verbindungen zogen sich durch alle Wirtschaftsbereiche.
Altes DDR-Know-How und neues West-Kapital gingen Partnerschaften ein auf der Suche nach profitablen Synergieeffekten. Wer damals mit wem Immobilien-Deals schloss, lässt die Stadt Leipzig nun noch einmal untersuchen, zumindest im Bereich der LWB. Die schnelle Aufklärung soll Fakten schaffen und die imageschädlichen Gerüchte tilgen.
Die Schlapphüte des Verfassungsschutzes haben offenbar in alten Gerichtsakten geblättert und dann ungeklärte Vorgänge und Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit den Verfahren weiter verfolgt. Dabei sollen sie auf Netzwerke gestoßen sein, in die Justiz, Polizei, Immobilien- und Rotlicht-Größen verstrickt seien.
Einige sprechen bereits von Mafia-ähnlichen Strukturen im Freistaat. In Leipzig habe es zusätzlich italienische Mafia-Netzwerke geben, heißt es. Andere, wie beispielsweise der Sachsen-Korrespondent des "Spiegel", sprechen lediglich von "Gefälligkeits– und Verbindlichkeitstrukturen". Ein Eindruck, den die alteingesessene Leipziger Geschäftsfrau, Ingrid Janik, teilt:
"In der Rückerinnerung weiß ich, und weiß ich natürlich auch in der heutigen Zeit von Geschäftsgebaren, die so von statten gehen 'Kennst Du mich, kenn ich Dich, gibst Du mit, geb ich Dir.' Das ist aber nicht nur eine Szenerie, die für Leipzig Gültigkeit hat, ich glaube, das ist ganz deutschlandweit so, das war auch in der Politik schon vor Jahren so und nicht nur im Immobiliengeschäft oder in anderen Tätigkeiten des Geschäftsgebarens, und es ist auch in anderen Ländern so."
Aber diesmal geht es nicht um andere Länder, sondern um Leipzig und weitere Städte in Sachsen. In den Akten geht es, nach allem, was man bislang weiß - auch um bereits gerichtlich behandelte Fälle, wie beispielsweise den versuchten Mordanschlag auf einen Manager der Leipziger Wohnungsbaugesellschaft, LWB, Martin Klockzin. Dieser überlebte nur knapp. Damals, Anfang der 90er Jahre hatten zwei Geschäftsleute gedungene Schläger damit beauftragt, Klockzin eine "Abreibung zu verpassen", um ihn in einem Streit um eine Immobilie in Zentrumsnähe gefügig zu machen. Seine Anwältin, die das Anschlagsopfer im nachfolgenden Gerichtsverfahren vertreten hat, meint rückblickend:
Rechtsanwältin von M. Klockzin: "Es gab sicherlich Seilschaften, so ausgeprägte Seilschaften und Verbindungen, dass man durchaus von einem kriminellen Netzwerk sprechen kann."
Der Manager Klockzin stand bis letzte Woche in Diensten der LWB, wurde nun aber überraschend entlassen, nachdem eine ehemalige Sekretärin ihn schwer belastete. Die Vorwürfe der Sekretärin sind allerdings noch nicht bewiesen.
Was bleibt, sind die Gerüchte und die Unsicherheit, ob denn überhaupt irgendetwas von dem, was derzeit den Freistaat so beunruhigt, wahr und justiziabel ist.
Auch die gestandene Geschäftsfrau, Ingrid Janik, glaubt noch lange nicht an die Gerüchte und Verdächtigungen, sie sieht Ihre Stadt zu Unrecht unter Generalverdacht:
Janik: "Meine Überzeugung ist die, es gibt immer Exzesse bei Umstrukturierungen von Städten, von Gesellschaftsformen, selbst im familiären Prozess. Das man das für Leipzig jetzt so pauschal hochzieht, ist sicher daran geschuldet, dass man in ein Wespennest gestochen ist, ist mal meine Formulierung, und sich daraus jetzt eine Kettenreaktion in der Rückerinnerung vollzieht."
So richtig glauben mag so mancher nicht an einen sächsischen Sumpf in der Politik, Justiz und Polizei. Sammelte der Verfassungsschutz des Landes wirklich nur Bagatell-Meldungen? Sachsens Justizminister jedenfalls sah vor einigen Tagen den Rechtsstaat einer "ernsthaften Bewährungsprobe" ausgesetzt. Auch er hatte noch vor Monatsfrist - wie viele andere auch – jegliches Gerede über Korruption als abwegig bezeichnet. Dies tut er nun nicht mehr.
Von Ralf Geissler
Mutmaßliche Mafia-Morde, Prostituierte im Leipziger Rathaus, ein Kinderbordell, in dem hochrangige Juristen verkehrt sein sollen – jeden Tag enthüllen die sächsischen Regionalzeitungen neue Details zur Korruptionsaffäre. Das sorgt für reichlich Gesprächsstoff im Bundesland. Ralf Geißler hat sich in Leipzig umgehört.
Der Bürger, die Politik und der Sumpf - Was sagen die Sachsen zur Korruptionsaffäre?
Vor dem Gebäude der Leipziger Volkszeitung steht ein großer Glaskasten. Täglich wird hier das aktuelle Blatt ausgehängt. Die Seiten verraten neue Details in der sächsischen Korruptionsaffäre. Briefe von empörten Lesern sind abgedruckt. Sie klagen über eine selbstgerechte Justiz, undurchsichtige Seilschaften und die schleppende Aufklärung. Elmar Brähler findet dieses allgemeine Unbehagen gefährlich. Er ist Psychologe und Soziologe an der Universität Leipzig.
"Ich bin letzte Woche Taxi gefahren. Und da kam gerade ein Bericht über die Affäre, wo der Taxifahrer plötzlich unvermittelt meinte: Die Richter müssten alles ins KZ kommen."
Brähler hat vergangenes Jahr 5000 Menschen befragen lassen, wie gut sie das bundesdeutsche System finden. Nur 27 Prozent der Ostdeutschen sagten, sie seien mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Die Affäre – fürchtet Brähler – wird die Akzeptanz weiter verschlechtern.
"Bitter ist es jetzt, dass es nun ausgerechnet ein ostdeutsches Bundesland ist. Korruptionsfälle gibt es in Deutschland zuhauf. Die hat es in Frankfurt am Main gegeben. Oder auch in Köln mit irgendwelchen Geflechten von Firmen und Kommunalpolitikern. Und jetzt trifft es wieder den armen Osten. Was leicht zu der Sicht im Westen führen kann: Da geht unsere Ost-Förderung hin."
Im Kneipen-Keller Leipziger Moritzbastei sorgt sich niemand um die Ost-Förderung. Volly Tanner sitzt vor einer Flasche Bier. Tanner ist Dichter, ein Leipziger Urgestein und nennt sich Sudel-Literat. Korruption verwundert ihn nicht. Vielmehr fragt er: Warum regen sich eigentlich alle so auf?
"Der Mächtige ist prinzipiell einer, der auch Macht ausnutzt. Das ist so. Keiner in Leitungsebenen wird seine Leitungsfunktion nicht ausnutzen. Das wäre ja auch doof. Also dann wären die ja alle Jesus Christus. Das wäre ja auch öde."
An Prostituierten im Rathaus findet Tanner nichts Schlimmes. Und manche Gäste im Kneipenkeller sehen das ganz ähnlich. Abends beim Bier herrscht allgemeine Untergangsstimmung:
Claudia Mühmel: "Ich denke eher nicht, dass wir eine Aufklärung bis zu Ende kriegen. Es werden ein paar Aufklärungsansätze da sein. Und zwar in der Form, dass die Masse beruhigt ist. Man hat was getan. Wahrscheinlich wirklich nach dem Motto: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen."
Michael Schwesinger: "Korruption ist ja wie eine gute Vorspeise, wie wir immer sagen. Da mundet das Hauptgericht einfach besser. Wenn alles gut geschmiert ist und die Suppe läuft."
Elia von Scirowski: "Ich weiß nicht, ob ich mich noch richtig ärgere. Ich habe mich bei vielen Sachen schon geärgert. Man liest dann immer mehr und irgendwann ärgert man sich nicht mehr. Und ich glaub, das ist das Erschreckende an der ganzen Sache, dass man sich irgendwann nicht mehr ärgert."
Tino Bucksch ärgert sich noch. Er ist Mitglied der Leipziger Jusos – der Jugendorganisation der SPD. Tino engagiert sich aus Überzeugung. Am rechten Handgelenk trägt der 26-Jährige ein rotes Band mit dem Aufdruck "Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität". Die Affäre trifft ihn auch privat.
"Als diese ganze Sumpfgeschichte aufgekommen ist, da wurden natürlich schon im Freundeskreis und auch im Familienumfeld Witze drüber gemacht. So, wir haben es doch schon immer gesagt: Geh nicht eine Partei und mach das nicht. Die stecken sich alles nur in die eigene Tasche. Jetzt hast Du es ja schwarz auf weiß."
Tino erschreckt vor allem das Ausmaß der Korruption. Er fordert von den Jusos eine klare Distanzierung von den Verantwortlichen – auch, wenn sie aus der SPD kommen sollten.
In der Neuen Nikolaischule im Leipziger Südosten hat die Diskussion um die Korruption in Sachsen längst die Klassenzimmer erreicht. Uwe Brandt arbeitet als Lehrer für Gemeinschaftskunde.
"Ich bin frustriert, teilweise wütend, kann die Dinge nicht nachvollziehen. Zumal ich als Lehrer, der Demokratie vermitteln soll, da in einem gehörigen Dilemma bin."
Brandt beginnt seinen Unterricht gern mit einem aktuellen Thema. Er redet mit den Schülern über Zeitungsartikel. Doch zuletzt trugen ganze Seiten Überschriften wie: "Ein Sumpf und mindestens drei Tote" oder "Irgendwann packt einer aus". Kein leichter Stoff – auch für den Lehrer nicht.
"Also vorhin hat mich ein Schüler ganz konkret gefragt, wie es denn sein kann, dass jemand ins Innenministerium strafversetzt wird. Wie so was sein kann und wie das geht. Welche Antwort soll ich ihm da geben?"
Etwa fünf Prozent der Schüler sind politisch interessiert, sagt Brandt. Nicht gerade viel. Und diese fünf Prozent kommen zunehmend ins Grübeln. Die Elftklässler Lorenz und Marieluise glauben beide nicht, dass die Affäre aufgeklärt wird.
Lorenz Barbick: "Auch wenn die Akten alle veröffentlich werden würden, würde es selbst in den Akten Widersprüche geben. Das hatten wir vorhin gerade diskutiert. Dadurch dass die Richter auch noch eine Rolle gespielt haben, dass die andere freisprechen konnten, die eigentlich was Schlimmes verbrochen hatten."
Marie-Luise Drunda: "Na man könnte zwar drüber reden, aber es ändert sich ja nix. Man kann ja ihnen nicht irgendwie ihre Meinung ändern oder irgendwie da ran kommen. Klappt ja nicht."
Sogar in der Leipziger Thomaskirche wird über die Affäre gesprochen. Am Grab von Johann Sebastian Bach hat Pfarrer Christian Wolff mehrfach über Korruption gepredigt. Tenor: Hütet Euch vor Vorverurteilungen, verzagt nicht angesichts der unappetitlichen Nachrichten und zieht Euch nicht ins Private zurück, sondern mischt Euch ein.
"Die Welt verändert sich nicht dadurch, dass sich acht Politiker in einem Hochsicherheitstrakt treffen. Sondern die Welt verändert sich dadurch, dass ich als Einzelner die mir von Gott übertragene Verantwortung für die Entwicklung dieses Lebens übernehme."
Wolff ist ein einsamer Rufer. Die Bereitschaft vieler Leipziger, sich zu engagieren, hat einen Tiefpunkt erreicht. Noch vor fünf Jahren war das anders. So vieles schien möglich: Fußball-WM, Großansiedlungen von BMW und DHL. Olympia 2012. Doch die Euphorie ist einem allgemeinen Unbehagen gewichen.
Die Justiz, die Wende und Leipzig
Von Daniela Kahls
Der sächsische Sumpf - noch ist nicht klar, was an den Vorwürfen und Gerüchten dran ist. Der Justizminister Sachsens wehrt sich jedoch immer vehementer gegen pauschale Verdächtigungen seiner Justiz. Er fürchtet um das Vertrauen der Bürger in die Judikative. Dabei wird die Frage immer lauter gestellt, ob ein Teil des Problems nicht auch im Aufbau der sächsischen Justiz nach der Wende liegt.
Egal, ob man im Dresdner Amtsgericht oder im Leipziger Landgericht unterwegs ist – auf den Gängen von sächsischen Justizgebäuden kommen einem überdurchschnittlich oft bayerisch oder schwäbisch sprechende Richter oder Staatsanwälte entgegen. Kein Wunder, wurde doch nach der Wende beim Aufbau der Justiz in besonderem Maße auf Fachkräfte aus dem Westen zurückgegriffen. Von den Richtern und Staatsanwälten aus DDR-Zeiten wurden in Sachsen nur 300 übernommen. Über 700 Richter und Staatsanwälte kamen aus dem Westteil der Republik dazu. Steffen Heitmann war in dieser Aufbauzeit Justizminister in Sachsen. Und auch er sieht im Nachhinein Probleme in dieser Konstellation.
"Wir hatten eine solche Fülle an jungen Leuten, dass das unausgewogen war. Aber die Frage: was hätte man anderes tun sollen?"
Andere sehen den sächsischen Justizapparat wesentlich kritischer. Beispielsweise Matthias von Hermanni. Er hat in Leipzig den kommunalen Betrieb für Beschäftigungsförderung, kurz bfb, aufgebaut, der in den 90er bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Der bfb war ein arbeitsmarktpolitisches Experiment, in dem zeitweise bis zu 8000 Sozialhilfe-Empfänger beschäftigt waren. Unumstritten war das Projekt nie, genauso wie der Geschäftsführer Matthias von Hermanni. 1999 kam er in Untersuchungshaft. Gegen ihn wurde unter anderem wegen des Vorwurfs der persönlichen Bereicherung ermittelt. Nach einem fünf Jahre dauernden Rechtsstreit gewann er schließlich in letzter Instanz. Und seitdem hat er eine klare Meinung von der sächsischen Justiz: er hält sie in Teilen schlichtweg für überfordert mit ihrem Amt. Sie sei eine fatale Mischung aus schlecht qualifizierten Juristen aus dem Westen und alten DDR-Seilschaften, meint von Hermanni.
"Daraus ist so nen Brei entstanden. Und dieser Brei aus dem sind dann bestimmte zugegebenermaßen auch rechtswidrige Strukturen entstanden. Und die muss man jetzt aufarbeiten. Aber entscheidend ist, dass man erst mal festhält, da ist so ein Brei gewesen und dieser Brei muss jetzt mal untersucht werden."
Bestandteil des Breis sei auch, dass vor allem in den Anfangsjahren Richter und Staatsanwälte immer wieder ihre Positionen gewechselt hätten, meint von Hermanni. Dadurch hätten die jungen Juristen nie gewusst, auf welcher Seite des Systems sie sozusagen stehen. Diese Kritik hält jedoch Reinhard Schade vom Sächsischen Richterverein für unbegründet. Schade, der selbst Richter in Bautzen ist, sieht keine Probleme bei der Rollenfindung:
"Diese Art der Laufbahngestaltung ist nicht nur in Sachsen üblich, den gibt’s in Bayern oder Baden-Württemberg, also hauptsächlich in den südlichen Bundesländern ist das ganz normal. Und das hat auch Vorteile, weil dadurch natürlich der Richter weiß, wie die Arbeit des Staatsanwaltes aussieht, welche Probleme dort herrschen und umgekehrt."
Das mag ja sein, kontert da der Leipziger Notar Thomas Walter. Denn er sieht noch ganz andere Probleme. Vor einigen Jahren hatte Walter die sächsische Justiz wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verklagt. Er hat zahlreiche Prozesse, unter anderem zur Gestaltung des Notarrechts, aber auch in Immobilien-Angelegenheiten in Sachsen geführt. Im Laufe der Jahre kam Walter immer mehr zu der Überzeugung, dass Richter und Staatsanwälte nicht vorurteilsfrei agierten. Seine Klage wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung wurde zwar abgewiesen. Aber Walter ist dennoch davon überzeugt, dass in Sachsen zu viele Personen am juristischen Ruder sitzen, die dafür charakterlich nicht geeignet sind:
"Ja, ich glaube schon, dass unheimlich viele Abhängigkeiten innerhalb der Justiz bestehen. Es ist ein Karrieredenken vorhanden. Und wenn also einer der Oberen eine Parole ausgibt, dass dann allzu bereitwillig die halt nicht so Rückgratfesten Personen dem folgen und dann auch in dieser Hinsicht agieren und damit unter Umständen ein Ergebnis produziert wird, was nicht im Sinne des Rechtsstaates ist."
Die Vertreter der sächsischen Justiz reagieren auf solche allgemeinen Vorwürfe zunehmend gereizt. Sowohl Sachsens jetziger Justizminister Geert Mackenroth, als auch Steffen Heitmann, der von 1990 bis 2000 Chef der Justiz war, wollen nichts hören davon, dass zweit– und drittklassige Juristen aus dem Westen zum Problem geworden seien. So meint Steffen Heitmann:
"Ich halte das für einen diffamierenden Vorwurf, der nicht gerechtfertigt ist."
Dabei steht Steffen Heitmann quasi selbst für die politische Einflussnahme auf die Justiz. Er musste von seinem Amt zurücktreten, weil er in Ermittlungen und Prozesse gegen Politiker seiner Partei, der CDU, wiederholt eingegriffen hatte. Heitmann selbst mag darüber nicht reden, doch der Dresdner Politikwissenschaftler Professor Werner Patzelt ist der Auffassung, dass gerade Heitmann für das Lehrgeld steht, das beim Aufbau einer Justiz bezahlt werden muss. Und das sei auch noch nicht abgeschlossen, ist Patzelt gerade angesichts der aktuellen Korruptionsaffäre in Sachsen überzeugt.
"In Verwaltungsbehörden, und freilich nicht nur dort, wird das Klima von jenen geprägt, die in Führungspositionen sitzen. Der Fisch stinkt gleichsam immer vom Kopfe her. Und in Führungspositionen sitzen naturgemäß nicht neu eingestellte Mitarbeiter, sondern jene, die sich seit etlichen Jahren, sei es halt 15 oder 16 Jahren, in jenen Positionen eingerichtet haben. Das heißt, falsche Weichenstellungen bei der Personalpolitik lassen sich nur schwierig und angesichts von Skandalisierungen in Ordnung bringen. Und vielleicht wird die weitere Entwicklung dieses Skandals uns zeigen, an welchen Stellen neue Personalrochaden notwendig sind!"
Patzelt hat hier vor allem leitende Richter und Staatsanwälte im Blick, die laut den aktuellen Vorwürfen ihre Positionen ausgenutzt haben sollen. In jedem Falle ist auch der Politikwissenschaftler davon überzeugt, dass in Sachsens Justiz zurzeit eine kaum vermeidbare Folge der Wiedervereinigung zu spüren ist. Es werde in Ansätzen quasi die jüngste Justizgeschichte der neuen Bundesländer aufgearbeitet.
Das "besondere Leipziger Pflaster"
Von Alexandra Gerlach
Amtsmissbrauch, Geldwäsche, Verbindungen zur Mafia und Kinderprostitution – dies sind die Stichworte, aus denen sich die Gerüchte über Korruption in Sachsen nähren. Wenig genaues ist bekannt, aber für Polizeischutz für einige Ermittler reichte es schon. Politik, Justiz und Polizei sind ins Gerede gekommen. Der Spruch "Mein Leipzig lob ich mir" hat eine ungewöhnliche Doppelbödigkeit bekommen. Wobei es auch um Fälle in Dresden, im Vogtland, in Plauen, in Chemnitz und in Hoyerswerda geht. Aber Leipzig spielt offenbar eine besondere Rolle.
Solange die vom Landesamt für Verfassungsschutz gesammelten Informationen als "streng geheim" eingestuft werden, gedeihen die Gerüchte prächtig. Bekannt ist immerhin, dass der Verfassungsschutz seine Erkenntnisse in fünf Komplexe untergliedert hat. Ein gewichtiger Komplex trägt den Namen "Abseits" und bezieht sich auf Vorgänge, die sich in Leipzig zugetragen haben sollen, Anfang bis Mitte der 90er Jahre. Das waren wilde Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes. Im Stadtgebiet wurden von den Immobilien- und Grundstücksmaklern sowie Bauunternehmen die Claims abgesteckt. Geschäfte wurden mit hoher Dynamik, unter Zeitdruck und häufig im Verborgenen abgewickelt. Die Stadt war im Aufbruch.
Pfarrer Christian Führer: "Und wie das jetzt in den wirtschaftlichen Phasen ablief das hat man nur stückweise mitgenommen, zum Beispiel beim Pleite-Schneider, der große Immobilienkönig. Und da habe ich nur wahrgenommen, diese Dinge, die im Zusammenhang auch mit Betrieben, die platt gemacht werden sollten. Aber was sich sonst hier in Leipzig in irgendwelchen Etagen abspielte, da habe ich keine Kenntnis davon."
Offensichtlich war jedoch für Christian Führer, den Pfarrer der Nikolaikirche, dass viele der ehemaligen DDR-Bürger in der Stadt große Schwierigkeiten hatten, mit der neuen Zeit zurechtzukommen. Ost-Beamte waren verunsichert, das neue Rechtssystem mit all seinen Verordnungen und Ausführungsbestimmungen weder gefestigt noch übersichtlich, der Handlungsdruck enorm. Werte verschoben sich.
"Der jetzt kommende präsente, wohlriechende Atheismus, Materialismus, wo die neuen Kirchen und Religionsstätten wie Banken und Kaufhäuser waren, die hatten was zu bieten, die hatten was anzubieten, was vorzuzeigen, was die Kommunisten so nicht hatten. Und auf diesen Götzen sind die Leute reihenweise abgefahren."
Ein ideales Klima für rasante und auch windige Geschäfte. Hinzu kam die Verbindung westdeutscher Glücksritter mit ostdeutschen SED-Seilschaften. Auch hier musste der Pfarrer der Nicolaikirche in den Jahren nach der Wende schmerzliche Erfahrungen in Leipzig machen:
"Zum Beispiel die sogenannten NSW-Kader, Leute, die vom Sozialismus aus im Westen waren mit den Betrieben, das waren 180-prozentige, nur die durften fahren. Und jetzt war hier großes Erschrecken, als die westlichen Betriebe sich nicht schämten mit den selben Leuten weiter zu arbeiten. Nach dem Motto: 'die sind karrierebewusst und anpassungsfähig' – na, das wussten wir schon immer, ich nenn es ein bisschen prosaischer 'Prinzip Fettauge': Ich schwimme immer oben, egal, wie die Brühe unten drunter heißt, Rot, Grün, Braun, wie auch immer."
Diese Verbindungen zogen sich durch alle Wirtschaftsbereiche.
Altes DDR-Know-How und neues West-Kapital gingen Partnerschaften ein auf der Suche nach profitablen Synergieeffekten. Wer damals mit wem Immobilien-Deals schloss, lässt die Stadt Leipzig nun noch einmal untersuchen, zumindest im Bereich der LWB. Die schnelle Aufklärung soll Fakten schaffen und die imageschädlichen Gerüchte tilgen.
Die Schlapphüte des Verfassungsschutzes haben offenbar in alten Gerichtsakten geblättert und dann ungeklärte Vorgänge und Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit den Verfahren weiter verfolgt. Dabei sollen sie auf Netzwerke gestoßen sein, in die Justiz, Polizei, Immobilien- und Rotlicht-Größen verstrickt seien.
Einige sprechen bereits von Mafia-ähnlichen Strukturen im Freistaat. In Leipzig habe es zusätzlich italienische Mafia-Netzwerke geben, heißt es. Andere, wie beispielsweise der Sachsen-Korrespondent des "Spiegel", sprechen lediglich von "Gefälligkeits– und Verbindlichkeitstrukturen". Ein Eindruck, den die alteingesessene Leipziger Geschäftsfrau, Ingrid Janik, teilt:
"In der Rückerinnerung weiß ich, und weiß ich natürlich auch in der heutigen Zeit von Geschäftsgebaren, die so von statten gehen 'Kennst Du mich, kenn ich Dich, gibst Du mit, geb ich Dir.' Das ist aber nicht nur eine Szenerie, die für Leipzig Gültigkeit hat, ich glaube, das ist ganz deutschlandweit so, das war auch in der Politik schon vor Jahren so und nicht nur im Immobiliengeschäft oder in anderen Tätigkeiten des Geschäftsgebarens, und es ist auch in anderen Ländern so."
Aber diesmal geht es nicht um andere Länder, sondern um Leipzig und weitere Städte in Sachsen. In den Akten geht es, nach allem, was man bislang weiß - auch um bereits gerichtlich behandelte Fälle, wie beispielsweise den versuchten Mordanschlag auf einen Manager der Leipziger Wohnungsbaugesellschaft, LWB, Martin Klockzin. Dieser überlebte nur knapp. Damals, Anfang der 90er Jahre hatten zwei Geschäftsleute gedungene Schläger damit beauftragt, Klockzin eine "Abreibung zu verpassen", um ihn in einem Streit um eine Immobilie in Zentrumsnähe gefügig zu machen. Seine Anwältin, die das Anschlagsopfer im nachfolgenden Gerichtsverfahren vertreten hat, meint rückblickend:
Rechtsanwältin von M. Klockzin: "Es gab sicherlich Seilschaften, so ausgeprägte Seilschaften und Verbindungen, dass man durchaus von einem kriminellen Netzwerk sprechen kann."
Der Manager Klockzin stand bis letzte Woche in Diensten der LWB, wurde nun aber überraschend entlassen, nachdem eine ehemalige Sekretärin ihn schwer belastete. Die Vorwürfe der Sekretärin sind allerdings noch nicht bewiesen.
Was bleibt, sind die Gerüchte und die Unsicherheit, ob denn überhaupt irgendetwas von dem, was derzeit den Freistaat so beunruhigt, wahr und justiziabel ist.
Auch die gestandene Geschäftsfrau, Ingrid Janik, glaubt noch lange nicht an die Gerüchte und Verdächtigungen, sie sieht Ihre Stadt zu Unrecht unter Generalverdacht:
Janik: "Meine Überzeugung ist die, es gibt immer Exzesse bei Umstrukturierungen von Städten, von Gesellschaftsformen, selbst im familiären Prozess. Das man das für Leipzig jetzt so pauschal hochzieht, ist sicher daran geschuldet, dass man in ein Wespennest gestochen ist, ist mal meine Formulierung, und sich daraus jetzt eine Kettenreaktion in der Rückerinnerung vollzieht."
So richtig glauben mag so mancher nicht an einen sächsischen Sumpf in der Politik, Justiz und Polizei. Sammelte der Verfassungsschutz des Landes wirklich nur Bagatell-Meldungen? Sachsens Justizminister jedenfalls sah vor einigen Tagen den Rechtsstaat einer "ernsthaften Bewährungsprobe" ausgesetzt. Auch er hatte noch vor Monatsfrist - wie viele andere auch – jegliches Gerede über Korruption als abwegig bezeichnet. Dies tut er nun nicht mehr.