Leïla Slimani: „Schaut, wie wir tanzen“

Aufbruch in die Wissenschaft

06:50 Minuten
Cover des Buches "Schaut wie wir tanzen" auf der eine schwarzweiß Aufnahme eines Paares beim tanzen zu sehen ist.
© Luchterhand

Leïla Slimani

Aus dem Französischen von Amelie Thoma

Schaut, wie wir tanzenLuchterhand, München 2022

380 Seiten

22,00 Euro

Von Ursula März · 01.11.2022
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Sie ist die Tochter einer Französin und eines Marokkaners - und als erste in ihrer Familie besucht Aicha eine Universität. Meisterhaft erzählt Leïla Slimani von Bildung, Freiheit und Anpassung unter postkolonialen Bedingungen.
Sex, Gewalt, Klassismus und die Lügen des liberalen Bürgertums – um diese Themen kreisten die ersten Romane der 1981 in Marokko geborenen Französin Leïla Slimani und machten die Autorin zu einem Literaturstar. Ihre Bücher zeichneten sich bisher durch stilistische Prägnanz und narrative Drastik aus – die Geduld zum weit ausholenden epischen Erzählen ließen sie nicht unbedingt erkennen. Genau diese Geduld aber bewies Leïla Slimani mit ihrem ersten, auf Deutsch 2021 erschienen Band einer als Trilogie angelegten Familiengeschichte.

Zweiter Band der Familiensaga

Wer den ersten Teil „Das Land der anderen“ las, konnte fast meinen, das Buch einer anderen Autorin vor sich zu haben. Es erzählt von der jungen Elsässerin Mathilde, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in Amine, einen marokkanischen Offizier der französischen Armee, verliebt und ihm in seine Heimat folgt. Angefeindet von der arabischen wie der kolonialfranzösischen Gesellschaft, erdrückt von ihrer Rolle als Ehefrau eines Farmers in der Provinz, kämpft sie eigensinnig um ihre Identität.
Der nun zweite Band „Schaut, wie wir tanzen“, beginnt mit der Feier eines kleinen Sieges: Mathilde veranstaltet ein Gartenfest, um den Swimmingpool einzuweihen, gegen dessen Bau sich Amine lange gesträubt hat.

Kampf um Identität im Laufe der Zeit

Es ist das Jahr 1968, die Zeiten haben sich geändert. Marokko ist unabhängig, ein autokratischer König regiert das Land, die Pariser Studentenunruhen finden ihren Widerhall in Rabat und Marrakesch, Hippies aus aller Welt entdecken das Partyleben an den Küsten Nordafrikas. Es gelingt Leïla Slimani meisterhaft, die kulturellen Verwerfungen dieser Epoche, die Ungleichzeitigkeit von Tradition und importierter Moderne zu veranschaulichen.
Die Hauptfigur des Romans ist Aicha, die hochbegabte Tochter von Mathilde und Amine. Als erste der Familie besucht sie die Universität und studiert in Straßburg Medizin. Vier Jahre war sie nicht mehr in Marokko. Im Sommer der Swimmingpool-Einweihung kehrt sie auf die Farm zurück. Die Welt ihrer französischen Kommilitonen, die von der Revolution träumen und in Nachtclubs gehen, ist ihr so fremd wie das bürgerliche Aufsteigerglück ihrer Eltern. Ihr einziges wirkliches Zuhause ist die Wissenschaft, bis sie „Karl Marx“ trifft. So lautet der Spitzname des charismatischen jungen Marokkaners, mit dem sie bald eine leidenschaftliche Liebe verbindet. Eine Liebe, die sie, wie dreißig Jahre zuvor ihre Mutter, in den Konflikt zwischen Freiheit und Bindung, zwischen Selbstentfaltung und Anpassung bringt.

Biografische Bezüge

Wie der erste besitzt auch der zweite Band der Trilogie die zentralen Elemente einer klassischen, leicht zugänglichen Familiensaga: ein vielköpfiges Ensemble, eine Fülle tragischer, skandalöser und komischer Episoden, einen Querschnitt durch soziale Milieus und eine breit ausgemalte historische Kulisse. Der rote Faden, der sich durch beide Romane zieht, ist indes die Geschichte einer weiblichen Genealogie unter postkolonialen Bedingungen.
Es ist die Geschichte von Leïla Slimanis eigener Großmutter und Mutter. Sie spielt in einem islamischen Land in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und berührt doch die unmittelbare politische Gegenwart. Wer den Roman im Herbst 2022 liest, hat die Bilder der iranischen Frauen vor Augen, die in diesem Moment um die Freiheit ihrer Körper und ihres Lebens kämpfen.
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