Leihmutter- und Mehrelternschaft

Es ist Zeit für die "Familie für alle"

03:50 Minuten
Illustration einer Gruppe von Familie und Freunden mit verschiedenen Haut-und Haarfarben
Familien sind längst vielfältiger als "Vater, Mutter, Kind". © imago / Ikon Images / Christopher Corr
Von Philipp Hübl · 18.08.2019
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Unerfüllte Kinderwünsche werden in Deutschland bislang unterschiedlich behandelt: Heterosexuelle Paare werden unterstützt. Singles und gleichgeschlechtliche Konstellationen dagegen nicht. Das sollte sich ändern, kommentiert Philipp Hübl.
Muss das Gesetz zum Schutz von Embryonen liberalisiert werden? In Deutschland ist es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern besonders streng. Verboten ist nicht nur die Eizellspende, sondern auch die Leihmutterschaft. Wer in Deutschland einer Ersatzmutter eine befruchtete Eizelle einpflanzt, muss mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. In Belgien oder Griechenland ist das Verfahren hingegen straffrei.

Gesetzeslage hinkt Lebenswelten hinterher

Vor zwei Jahren trat in Deutschland zwar die "Ehe für alle" in Kraft, aber eben nicht die "Familie für alle". So unterstützen Krankenkassen bisher nur heterosexuelle Ehepartner bei Kinderwunschbehandlungen. Single-Frauen werden systematisch benachteiligt. Ebenso lesbische verheiratete Paare.
Dabei haben sich seit dem Gesetzeserlass von 1990 nicht nur die technischen Möglichkeiten weiterentwickelt, sondern auch die Lebenswelten. Kinder wachsen inzwischen glücklich in Patchwork-Familien auf, bei Single-Müttern und Single-Vätern, einige haben gleichgeschlechtliche Eltern, und oft erziehen die Großeltern mit. Wenn aber die Alternativen zum klassischen Familienmodell so gut funktionieren, fragt man sich, warum das Abstammungs- und Adoptionsrecht nicht reformiert wird.

Natürlichkeit und Reinheit sind schlechte Argumente

Die Gegner einer Reform wenden meist ein, es sei nicht "natürlich", dass homosexuelle Paare Kinder bekommen oder Frauen, die nicht zeugungsfähig sind. Das Wort "natürlich" führt in solchen Argumenten immer ein Doppelleben. Die erste, die wertneutrale Lesart trifft häufig sogar zu: Ohne medizinische Hilfe würde in diesen Fällen oft kein Kind auf die Welt kommen. Die zweite Lesart von "natürlich" hingegen ist nicht wertneutral, sondern moralisch aufgeladen.
Ein Porträt des Philosophen und Publizisten Philipp Hübl.
"Natürlich" oder "rein", sind das nicht bürgerliche Kategorien? Philipp Hübl ist da skeptisch.© Philipp Hübl
Dahinter steckt eine Idee von Reinheit, die besonders in traditionalistischen Wertesystemen dominant ist, wenn es um die Themen Leben, Tod und Sexualität geht. Viele Untersuchungen zeigen: Je konservativer und religiöser eine Person ist, desto wichtiger ist ihr Reinheit, und desto unnatürlicher erscheinen ihr zum Beispiel Sterbehilfe, Homosexualität – und eben auch künstliche Befruchtung. Die heterosexuelle Familie ist demnach rein, also "heilig" und "natürlich"; Abweichungen vom Normalfall gelten als moralisch "widernatürlich".

Kindeswohl sollte im Mittelpunkt stehen

Auch wenn viele Konservative es anders darstellen: Ihnen geht es selten primär um das Kindeswohl. Viel öfter ist ihre Motivation eine diffuse Vorstellung von Schöpfung und eine Abscheu gegenüber dem Unbekannten: ein mulmiges Bauchgefühl, das aber für die moralische Bewertung keine Rolle spielen sollte.
Eine universelle Ethik dagegen zielt darauf ab, die Individuen vor Schaden zu schützen und ihre Rechte zu sichern: das Wohl der Kinder ebenso wie die Kinderwünsche der potentiellen Eltern. Selbstverständlich muss der Staat sicherstellen, dass keine kommerzielle Leihmutter-Industrie entsteht, die die finanzielle Abhängigkeit von Frauen – etwa in ärmeren Ländern – ausnutzt. Das Modell der altruistischen Leihmutterschaft jedoch sollte nach gründlicher Prüfung erlaubt sein.

Berliner Pinguine machen es vor

Man kann sich darauf einstellen, dass es mit der Reform dauern wird. Die Rechtsprechung hinkt dem Wertewandel oft weit hinterher – gerade in Deutschland. Der Berliner Zoo ist da übrigens fortschrittlicher. Vor kurzem hat dort ein schwules Pinguinpaar ein Ei adoptiert, das die Mutter nicht bebrüten wollte. Seitdem wechseln sich die beiden, Skipper und Ping, dabei ab, das Ei in ihrer Bauchfalte warm zu halten. Mit etwas Glück schlüpft bald ihr Wunschkind. Ganz unbehelligt von der deutschen Rechtsprechung und ganz natürlich.

Philipp Hübl ist Philosoph und Autor zahlreicher Bücher. Darunter "Folge dem weißen Kaninchen ... in die Welt der Philosophie" (2012), "Der Untergrund des Denkens" (2015) , "Bullshit-Resistenz" (2018) und "Die aufgeregte Gesellschaft" (2019).

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