Lehrstück Populismus am Beispiel Ungarn
In Ungarn ist der Populismus besonders prägnant und organisiert. An ihm lässt sich exemplarisch verstehen, wie er prinzipiell, also auch in anderen Ländern, funktioniert.
Überdies gibt es in Ungarn eine populistische Tradition, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstarkte, einen Höhepunkt in der Diktatur Horthys fand und sich nach 1990 in mehreren Parteien und Organisationen reorganisierte, unter anderem in der traditionsreichen, inzwischen irrelevant gewordenen "Partei der unabhängigen Kleinlandwirte".
Der Populismus entstand in Reaktion auf die Industrialisierung des Landes und die Verwandlung Budapests in eine glanzvolle, kreative und tolerante europäische Metropole. Die dazu passende politische Kultur erhielt das Etikett "urbanistisch". Die Gegenbewegung, die einer romantischen Vorstellung des authentischen ungarischen Volkes anhing, erhielt das Etikett "populistisch". Die populistische Mehrheit war eher engstirnig und aggressiv.
Zunächst muss jeder Populismus festlegen, wer dazu gehört und wer nicht. So unterscheidet die seit 2003 bestehende radikale populistische Partei "Jobbik" zwischen echten Ungarn und den anderen. Echter Ungar ist jeder Mensch ungarischer Muttersprache – mit gewichtigen Ausnahmen. Nicht dazu gehören für Jobbik die Roma, die früher "Zigeuner" genannt wurden; sie seien überwiegend faul und kriminell. Jobbik will daher die "Zigeuner-Kriminalität" bekämpfen. Dass ihre Anhänger bei den rassistischen Morden der letzten Zeit beteiligt gewesen seien, bestreitet Jobbik.
Keine echten Ungarn seien auch die Juden; die ungarische Nation sei christlich geprägt. Jobbik zufolge wollten die Juden das Land in Besitz nehmen, soweit sie es nicht bereits gekauft haben. Offiziell spricht die Bewegung allerdings nur von "Israelis" und "Amerikanern". Aber die Anhänger verstehen, wer gemeint ist. Entsprechend solidarisiert sich Jobbik mit den Palästinensern, die von Israel "unterdrückt und beraubt" würden. Gleichwohl behauptet Jobbik, nicht antisemitisch zu sein.
Keine echten Ungarn seien schließlich die Verräter: die Liberalen, die Sozialisten; die Freunde der Zigeuner, der Juden und der EU. Kaum verhüllt ziele der EU-Zentralismus nämlich auf eine Vernichtung der europäischen Nationen und damit auch Ungarns. Dagegen müsse sich die Nation behaupten.
Im Hintergrund verfügbar bleiben die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern. Die Aufteilung des Landes 1920, als die Siegermächte des Ersten Weltkriegs im Vertrag von Trianon zwei Drittel des ungarischen Landes und ein Drittel der Ungarn den Nachbarländern zuschlugen, ist ein mythisches Trauma der meisten ungarischen Parteien, mit dem auch Jobbik spielen kann.
Die Stimmungen und Einstellungen, die Jobbik mobilisiert, reichen weiter als in Wahlergebnissen sichtbar wird. Denn auch in Ungarn gibt es Tabus. Politiker, die – populär ausgedrückt – öffentlich "die Sau rauslassen", erfahren heftige Kritik. Das muss nicht so bleiben. Der Populismus preist überall den Tabubruch als Befreiung. "Endlich sagt einmal jemand, wie es wirklich ist", ist dafür die Schlüsselaussage.
Das Spiel mit den tabuisierten Begriffen und Symbolen schafft ein verschmitztes Einverständnis. Wo Jobbik offiziell von "Roma" redet, verstehen alle "Zigeuner". Wo Jobbik von "Israelis" redet, verstehen alle "Juden". Und so ist es auch gemeint. Das entsprechende Spiel mit Symbolen ist von deutschen Rechtsextremisten vertraut, die das verbotene Hakenkreuz durch ähnliche Symbole ersetzen und so das Verbot lächerlich machen wollen.
Die Themen mögen für Ungarn spezifisch sein. Die rhetorischen und symbolischen Strategien des Populismus aber gehören zum modernen politischen Leben generell. Die populistischen Potentiale finden sich dabei fast überall im politischen Spektrum. Wo der Populismus öffentlich wird, tendiert er zu schriller Geschmacklosigkeit und kann bei seriösen Bürgern ein Gefühl von Peinlichkeit und Distanz wecken. Aber darauf kann man sich nicht verlassen. Nicht immer hat Vulgarität eine Machtergreifung verhindert.
Erhard Stölting, Jahrgang 1942, Studium der Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft, unter anderem Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Zur Zeit Vertretung im Bereich Soziologie an der Universität Potsdam.
Der Populismus entstand in Reaktion auf die Industrialisierung des Landes und die Verwandlung Budapests in eine glanzvolle, kreative und tolerante europäische Metropole. Die dazu passende politische Kultur erhielt das Etikett "urbanistisch". Die Gegenbewegung, die einer romantischen Vorstellung des authentischen ungarischen Volkes anhing, erhielt das Etikett "populistisch". Die populistische Mehrheit war eher engstirnig und aggressiv.
Zunächst muss jeder Populismus festlegen, wer dazu gehört und wer nicht. So unterscheidet die seit 2003 bestehende radikale populistische Partei "Jobbik" zwischen echten Ungarn und den anderen. Echter Ungar ist jeder Mensch ungarischer Muttersprache – mit gewichtigen Ausnahmen. Nicht dazu gehören für Jobbik die Roma, die früher "Zigeuner" genannt wurden; sie seien überwiegend faul und kriminell. Jobbik will daher die "Zigeuner-Kriminalität" bekämpfen. Dass ihre Anhänger bei den rassistischen Morden der letzten Zeit beteiligt gewesen seien, bestreitet Jobbik.
Keine echten Ungarn seien auch die Juden; die ungarische Nation sei christlich geprägt. Jobbik zufolge wollten die Juden das Land in Besitz nehmen, soweit sie es nicht bereits gekauft haben. Offiziell spricht die Bewegung allerdings nur von "Israelis" und "Amerikanern". Aber die Anhänger verstehen, wer gemeint ist. Entsprechend solidarisiert sich Jobbik mit den Palästinensern, die von Israel "unterdrückt und beraubt" würden. Gleichwohl behauptet Jobbik, nicht antisemitisch zu sein.
Keine echten Ungarn seien schließlich die Verräter: die Liberalen, die Sozialisten; die Freunde der Zigeuner, der Juden und der EU. Kaum verhüllt ziele der EU-Zentralismus nämlich auf eine Vernichtung der europäischen Nationen und damit auch Ungarns. Dagegen müsse sich die Nation behaupten.
Im Hintergrund verfügbar bleiben die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern. Die Aufteilung des Landes 1920, als die Siegermächte des Ersten Weltkriegs im Vertrag von Trianon zwei Drittel des ungarischen Landes und ein Drittel der Ungarn den Nachbarländern zuschlugen, ist ein mythisches Trauma der meisten ungarischen Parteien, mit dem auch Jobbik spielen kann.
Die Stimmungen und Einstellungen, die Jobbik mobilisiert, reichen weiter als in Wahlergebnissen sichtbar wird. Denn auch in Ungarn gibt es Tabus. Politiker, die – populär ausgedrückt – öffentlich "die Sau rauslassen", erfahren heftige Kritik. Das muss nicht so bleiben. Der Populismus preist überall den Tabubruch als Befreiung. "Endlich sagt einmal jemand, wie es wirklich ist", ist dafür die Schlüsselaussage.
Das Spiel mit den tabuisierten Begriffen und Symbolen schafft ein verschmitztes Einverständnis. Wo Jobbik offiziell von "Roma" redet, verstehen alle "Zigeuner". Wo Jobbik von "Israelis" redet, verstehen alle "Juden". Und so ist es auch gemeint. Das entsprechende Spiel mit Symbolen ist von deutschen Rechtsextremisten vertraut, die das verbotene Hakenkreuz durch ähnliche Symbole ersetzen und so das Verbot lächerlich machen wollen.
Die Themen mögen für Ungarn spezifisch sein. Die rhetorischen und symbolischen Strategien des Populismus aber gehören zum modernen politischen Leben generell. Die populistischen Potentiale finden sich dabei fast überall im politischen Spektrum. Wo der Populismus öffentlich wird, tendiert er zu schriller Geschmacklosigkeit und kann bei seriösen Bürgern ein Gefühl von Peinlichkeit und Distanz wecken. Aber darauf kann man sich nicht verlassen. Nicht immer hat Vulgarität eine Machtergreifung verhindert.
Erhard Stölting, Jahrgang 1942, Studium der Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft, unter anderem Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Zur Zeit Vertretung im Bereich Soziologie an der Universität Potsdam.