Lehrjahre eines Vampirs

17.04.2009
Für den russischen Schriftsteller Viktor Pelewin, der als literarisch scharfer Beobachter der Verhältnisse in seinem Heimatland gilt, dient eine groteske Vampir-Welt als Spiegel für die Menschen von heute. Das ist oft so wüst und schnell und kurvenreich erzählt wie ein rasanter Nachtflug einer Fledermaus, die gelegentlich bremst, um über die Welt nachzusinnen.
Es gibt jede Menge Bilder von Vampiren: vom monströsen Nosferatu über eine immerhin noch dämonische Dracula-Figur, wie sie Bela Lugosi darstellte, es gibt den homoerotischen Vampir à la Tom Cruise oder den waffen- und kampftechnisch bestens gerüsteten Blade, der als Abtrünniger die eigene Gattung im Interesse einer ahnungslosen Menschheit bekämpft.

Und neuerdings ist eine weitere Vampir-Population auf dem Markt, die sich bis(s) zum Morgenrot, bis(s) zur Mittagsstunde oder bis(s) zum Abendrot mit schweren moralischen Bedenken quält, weil die Liebe (zu Menschen) in sie gefahren ist und sie dringend nach Alternativen sucht, wie denn Veranlagung und Liebe irgendwie unter einen Hut zu bringen wären.

In Wahrheit ist alles viel schlimmer. In Wahrheit nämlich haben die Vampire längst die Herrschaft über die Menschen errungen, und den ganzen Kitsch vom Blutaussaugen, Untot-Sein, Sonnenallergie und allerlei martialischem Getue überlassen sie diesen Menschen und deren Fantasie, um unauffälliger und ganz ungestört ihrer Weltherrschaft nachgehen zu können.

So erfährt es gleich im Einführungskurs ein Vampir-Novize namens Roma in Viktor Pelewins "Das fünfte Imperium". Der neue Vampirismus versteht sich als Herrschaft einer "Elite", die – das dann schon – auf Menschenblut beruht,
aber, bitte, in gezähmten Dosen, orientiert an den Prinzipien einer nachhaltigen Milchwirtschaft. "Verkostungen" nennt man im Jargon das tropfenfein dosierte Einnehmen "roter Flüssigkeit", die man in blitzschnellen, millimeterkleinen Bissen gewonnen hat.

Keineswegs wird der Gebissene daraufhin ebenfalls zum Vampir, er hat einfach nur ein paar Tröpfchen Blut verloren und eine winzige Wunde zurückbehalten. Auf der anderen Seite gewinnt der Vampir aus diesen Tropfen die Information über das gesamte Innenleben seines Opfers. Besonderen Wert haben dabei jene Proben, die "entnommen" wurden, während das Opfer gerade an Geldangelegenheiten dachte.

Der Roman beschreibt die Lehrzeit des Jung-Vampirs mit all ihren Initiationsritualen, und er tut es auf eine sehr Pelewin-typische Weise: Schrille, wie aus einem Fantasy-Comic stammende Szenen und Ereignisse wechseln mit sarkastischen Kommentaren zur spätsowjetischen Zeit, mit Film-, Musik- oder Literaturzitaten, mit gesellschaftstheoretischen Erörterungen über Gegenwart und Zukunft, die changieren zwischen tiefem Ernst und einem bittersüßen ironischen Witz.

Die Abgewandtheit einer grotesken Vampir-Welt wird in ihrem Kern zum Podium für das Verhandeln der Zustände in der (heutigen) Menschen-Welt. Das ist oft so wüst und schnell und kurvenreich erzählt wie ein rasanter Nachtflug einer Fledermaus, die gelegentlich bremst, um über die Welt nachzusinnen.

Heutzutage ist die Nachricht, dass diese Welt von Vampiren beherrscht wird, nahezu ein Gemeinplatz. Viktor Pelewin, literarisch der schärfste Beobachter des neuen Russland, eben jenem Teil der Welt, in dem sich der vampiristische Kapitalismus der Gegenwart wohl am unverschämtesten gebärdet, hatte diese Erkenntnis schon vor Jahren.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Viktor Pelewin: Das fünfte Imperium. Roman
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Luchterhand Literaturverlag, München 2009
400 Seiten, 10,00 Euro