Lehrermangel

"Mit kleinen Kindern sollten Quereinsteiger nicht arbeiten"

Eine Schülerin schreibt mit bunter Kreide in Großbuchstaben das ABC an eine Tafel.
Die Alphabetisierung der Kinder sei eine der schwierigsten Tätigkeiten in der Schule, sagt Jörg Ramseger. © dpa picture alliance/ Daniel Reinhardt
Jörg Ramseger im Gespräch mit Liane von Billerbeck  · 31.05.2018
Den Einsatz von Quereinsteigern in den Lehrerberuf lehnt der Bildungsforscher Jörg Ramseger an Grundschulen ab. Er warnt vor den Folgen, wenn Laien an der Alphabetisierung kleiner Kinder arbeiteten und rügte die Kultusministerien für ihre Untätigkeit.
"Wir unterschätzen, wenn wir Laienpädagogen in der Grundschule einsetzen, die Anforderungen in fachlicher Hinsicht", sagte der Bildungsforscher Jörg Ramseger im Deutschlandfunk Kultur. Das gelte vor allem für den Prozess der Alphabetisierung der Kinder. Dies sei eine der schwierigsten und verantwortungsvollsten Tätigkeiten in der Schule.
Wenn die Alphabetisierung in der Schule nicht gelinge, habe das für die Kinder dramatische Folgen für die gesamte Schulentwicklung. Ramseger räumte ein, dass es sicher 10 bis 15 Prozent Naturtalente gebe, die sich an den Schulen als Lehrer als geeignet erwiesen, aber sie sollten eher an Gymnasien oder Berufsschule im Umgang mit älteren Kindern eingesetzt werden.

Versäumnisse der Kultusministerien

Schwere Vorwürfe richtete Ramseger an die Kultusministerien und zählte deren Versäumnisse auf. Sie hätten die Pensionierungswelle ebenso verschlafen wie den Geburtenanstieg, aber auch höhere Anforderungen durch die Integration von Migrantenkindern und die Herausforderungen der Inklusion ignoriert. Er empfahl, den Ausbau der Grundschulen zu Ganztagesschulen angesichts der Personalnot zurückzustellen. (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: "Besser der Unterricht fällt aus als von einem Quereinsteiger gemacht zu werden." Dieser Satz eines Lehrers aus Brandenburg in einem Stück in unserer Sendung "Länderreport", der hat diese Woche für eine heftige Hörerdiskussion auf Facebook gesorgt, und es gab viele Stimmen, die gesagt haben, Seiteneinsteiger seien gar nicht so problematisch.
Wir konnten einige davon bei uns hören, und ich möchte darüber sprechen, warum es so schwierig ist mit Seiteneinsteigern in der Grundschule mit einem Bildungsforscher und Professor für Grundschulpädagogik an der FU Berlin, Jörg Ramseger, der sagt, Seiteneinsteiger in der Grundschule, nein danke. Schönen guten Morgen!
Jörg Ramseger: Ich grüße Sie, guten Morgen!
Billerbeck: Sie haben einen Appell mit verfasst, in dem vor den wörtlich "unabsehbaren Folgen des verstärkten Quereinstiegs von Nichtpädagogen" gewarnt wird, vor allem in den Grundschulen. Was ist für Sie so dramatisch an dieser Entwicklung?
Ramseger: Also wir erleben mit den Quereinsteigern in den Schulen natürlich ganz unterschiedliche Dinge. Es gibt sicher die zehn oder fünfzehn Prozent sogenannten Naturtalente, die richtig gut sich einsetzen, klarkommen, auch mit Kindern sehr gut umgehen können und womöglich fachliche Vorerfahrungen mitbringen, die auch in der Grundschule nützlich sind, also zum Beispiel, wenn eine Musikpädagogin schon lange Jahre musikalische Früherziehung an der örtlichen Musikschule gemacht hat, warum soll sie nicht den Musikkurs in der Grundschule mitnehmen.
Musikpädagogin Louise Börner (l) leitet am 26.10.2017 den Musikunterricht im Rahmen des Projekts "Musaik" in Dresden-Prohlis (Sachsen). 
Im Musikunterricht können Quereinsteiger einspringen © picture alliance/ Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa
Das kann man schon machen. Aber wir unterschätzen, wenn wir Laienpädagogen in der Grundschule einsetzen – die Anforderungen in fachlicher Hinsicht, insbesondere im Prozess der Alphabetisierung der Kinder, was eine der schwierigsten und auch verantwortungsvollsten Tätigkeiten ist, die es überhaupt im Schuldienst gibt.
Ich kann es mal an einem Beispiel klarmachen: Es gibt so etwa vier grundlegende Kernkonzepte, wie man Kinder in das Lesen und Schreiben einführen kann. Wenn man aber nicht durchschaut, was die Unterschiede dieser Konzepte sind, weil man die theoretischen Prämissen, also die Voraussetzungen und die praktischen Konsequenzen der jeweiligen Arbeitsformen gar nicht kennt, und das erwirbt man nicht in Schnellkursen, dann hat man eigentlich keine Ahnung, was man tut mit den Kindern.
Dann kann man auf Entwicklungsunterschiede der Kinder nicht angemessen reagieren, und das ist ein hochkomplexes Gewerbe. Was in der Grundschule an dieser Stelle scheitert, hat dramatische Folgen für die gesamte weitere Schullaufbahn des Kindes, denn die erfolgreiche Einführung in die Schriftsprache ist Voraussetzung in Schulerfolg in allen Fächern, und das wissen wir, und da geht ganz viel schief, wenn das von Menschen gemacht wird, die gar nicht wissen, was sie tun.

Die Kultusminister haben gepennt

Billerbeck: Aber das sind doch alles Erkenntnisse, die Sie da gerade gebracht haben, die sind doch bekannt. Warum hat man denn nicht dafür gesorgt, dass man genug Grundschullehrer ausbildet und stattdessen eben diesen Weg mit Quereinsteigern und Schnelllernern gewählt, um die Lücken zu stopfen?
Ramseger: Also man kann es auf eine simple Formel bringen: Die Kultusminister der Länder in Deutschland haben einfach gepennt. Sie haben fünf Entwicklungen, die gleichzeitig jetzt zusammenkommen, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Das erste war, dass sie die Pensionierungswelle, die seit 1910 ansteht in unseren Schulen, ignoriert haben, obwohl sie das Personal ja selber beschäftigen und genau wissen, wann ein Mensch in Pension geht. Sie haben die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor- und Masterstudiengänge an den Universitäten ab 2004 ignoriert.
Ein Hörsaal in der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Auch die Veränderungen an den Universitäten wirken sich aus © Waltraud Grubitzsch/dpa-Zentralbild/dpa
Diese Umstellung der Studiengänge ist mit einem dramatischen Rückgang der Studierendenzahlen verbunden. Sie haben den Geburtenanstieg ab 2011 ignoriert, der aber natürlich sichtbar war ab 2011, weil das Einwohnermeldeamt kennt ja die Zahl der Geburten in einem Jahr. Und sie haben die gestiegenen pädagogischen Anforderungen und Bedarfe, die wir dadurch haben, dass wir Englischunterricht in der Grundschule eingeführt haben, dass wir eine intensive Migrantenförderung benötigen, weil die Zahl der Migrantenkinder in unseren Schulen ständig steigt, und sie haben die Mehrbedarfe für Inklusion ignoriert, und sie haben schließlich den raschen Ausbau der Grundschulen zu Ganztagseinrichtungen und Ganztagsschulen auch ignoriert.
Billerbeck: Also das war jetzt ein kompletter Rundumschlag, da ist also in der Bildungs…
Ramseger: Das sind sechs Faktoren, die einfach völlig übersehen worden sind. Es hat sich niemand gekümmert in den Ministerien.
Billerbeck: Da fragt man sich am Ende, ich versuche ja immer noch was Positives zu sehen, und es gibt also in den Zuschriften unserer Hörer in dieser Debatte, die ich da vorhin erwähnt habe, gibt es durchaus Stimmen, die sagen, man kann nicht alle über einen Kamm scheren, es gibt bestimmt auch sehr talentierte Quereinsteiger, die gerade aufgrund des fehlenden, starr durchorganisierten und teils veralteten Lehrerstudium ganz gut wären in den Schulen. Sie haben ja auch gesagt, ja, es gibt zehn bis fünfzehn Prozent der Naturtalente, aber bitteschön nicht in den Grundschulen.
Ramseger: Ja.

Einsatz bei älteren Kindern besser

Billerbeck: Wie muss denn das jetzt weitergehen, wie kann man das Problem lösen? Wir haben ja einen großen Teil von Seiteneinsteigern jetzt als Pädagogen. Was also tun?
Ramseger: Also es kann Sinn machen, ausgebildete Lehrkräfte aus der Sekundarschule Eins umzuschulen und sie in die Primarstufe zu versetzen, also Lehrer für ältere Jahrgänge, die immerhin ein Pädagogikstudium haben und ihre Fächer beherrschen, in jüngeren Jahrgangsstufen einzusetzen und die Quereinsteiger primär dort zu konzentrieren, wo die Menschen sitzen, die schon erfolgreich selbstständig lernen können, nämlich in der gymnasialen Oberstufe.
Es macht auch Sinn, und wir haben ja auch solche positiven Zuschriften auf den Facebook-Seiten von Ihrem Sender gelesen, vielleicht Quereinsteiger in den Berufsschulen einzusetzen, aber mit kleinen Kindern sollten Quereinsteiger in aller Regel nicht arbeiten, zumindest nicht in den ersten beiden Klassen der Grundschule, und ansonsten nur begrenzt. Den Unterricht zu kürzen, macht auch Sinn und sich konzentrieren auf die Stunden, die man mit fachlich qualifiziertem Personal besetzen kann. Von daher würde es Sinn machen, den Anspruch der Großen Koalition, alle Grundschulen zu Ganztagsschulen umzuwandeln, auszusetzen, bis man das Personal dafür verfügbar hat.
Billerbeck: Da ist eine Menge zu tun, ist vielleicht auch Thema, also mal abgesehen davon, das mir gerade noch einfiel, dass Sie sagten, ja, die Lehrer aus den oberen Jahrgängen in die Grundschulen stecken, ob die da alle begeistert Hurra schreien, ist noch auch eine Frage, und die zweite Frage …
Ramseger: Wieso nicht? Zumal es, wo es dort geschieht, zum Beispiel in Bayern, ja mit erheblichen Einkommensverlusten verbunden ist und von daher auch als eine Degradierung betrachtet wird. Aber das kann man politisch korrigieren, indem man die Gehälter in der Grundschule denen der höheren Jahrgangsstufen anpasst.
Billerbeck: Zumal Sie gesagt haben, dass gerade die ersten beiden Klassen in der Grundschule eben so extrem wichtig sind. Jetzt ist er weg, jetzt höre ich meinen Gesprächspartner leider nicht mehr. Jörg Ramseger war das, Bildungsforscher und Professor von der FU Berlin über die Frage, ob Seiteneinsteiger in den Grundschulen was verloren haben. Er sagt, nein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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