Lehren aus Grexit-Debatte

Was für ein Europa wollen wir?

Eine Hand schwenkt eine EU-Fahne vor dem griechischen Parlament in Athen.
Ist Europa mehr als ein Bündnis von Finanzpartnern? Günther Verheugen und Nicol Lubic diskutieren. © picture alliance / dpa / Fotis Plegas G.
Günther Verheugen und Nicol Lubic im Gespräch mit Klaus Pokatzky |
Europa steckt in einer Sinnkrise, meinen der SPD-Politiker Günther Verheugen und der Schriftsteller Nicol Lubic. Sie sprechen sich vehement dafür aus, dass die EU wirklich als Gemeinschaft wahrgenommen wird und nicht als reiner Pakt zwischen Gläubigern und Schuldnern.
Die Griechenlandkrise ist eine harte Belastungsprobe für Europa. Denn auch, wenn es erneut Milliardenzahlungen geben wird – und das Land damit in der Eurozone bleiben kann: Das Problem ist damit nicht gelöst. Wie belastbar ist Europa? Wie weit soll die gegenseitige Solidarität der Länder gehen? Und wie soll Europa – jenseits der Finanz und Wirtschaftsfragen – aussehen?
Was für ein Europa wollen wir?
"Was wir im Augenblick erleben, ist viel mehr als ein finanzpolitisches oder technisches Problem. Es geht wirklich hier um die Grundsatzfrage, wie wir uns als Europäerinnen und Europäer verstehen", sagt der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen. "Verstehen wir uns als eine unauflösbare Union von Völkern, die ihr Schicksal gemeinsam tragen wollen? Oder verstehen wir uns als ein blutleeres Paragraphengerüst, wo nichts anderes gilt als irgendwelche Vorschriften oder Regeln?"
Der SPD-Politiker spricht sich vehement gegen einen "Grexit" aus: "Ich erwarte von unseren Staats- und Regierungschefs, dass der Welt ein klares Signal gegeben wird. Wir stehen zusammen und wir kippen keinen über Bord!"
Ihn beunruhigt der wachsende Nationalismus – auch in Deutschland.
"Man hat in unserem Land das Gefühl, dass viele Menschen denken: Wir kommen alleine eigentlich besser zurecht; die anderen wollen nur was von uns; wir sind immer diejenigen, die bezahlen müssen. Da muss man die Deutschen schon daran erinnern, dass es kein Volk in Europa gibt, das mehr abhängt von einer funktionierenden europäischen Einigung als wir. Wir sind ein großes und starkes Land – das ist richtig –, aber wir sind auch ein verwundbares Land. Und niemand braucht europäische Einheit mehr als Deutschland."
"Wir reden nur noch von Gläubigern und Schuldnern"
"Ich empfinde es als ein ganz fatales Signal, dass die vermeintlich größte Krise der EU ausgerechnet in den Händen der Finanzminister liegt", sagt der Schriftsteller und Journalist Nicol Ljubic. "Das ist doch ein deutlicher Beweis, auf was Europa reduziert wird in der politischen Wahrnehmung: Es wird nicht mehr von den Menschen gesprochen, von den Griechen, den Deutschen, den Franzosen – wir reden nur noch von Gläubigern und Schuldnern."
Der in Zagreb geborene Deutsche ist in Schweden, Griechenland und Russland aufgewachsen, heute lebt er in Berlin. Nicht nur aufgrund seiner eigenen Geschichte beschäftigt ihn Europa immer wieder: "Europa ist die Region der Welt, in der ich mich zu Hause fühle, so viele Länder mit einer solchen Historie! Dass es zwischen ehemaligen Erzfeinden wie Deutschland und Frankreich oder Deutschland und Polen heute undenkbar ist, Krieg gegeneinander zu führen – da ist mir die Bürokratie egal. Und was mir noch viel wichtiger ist: Diese Freizügigkeit – dass ich morgen überlegen kann, ob ich in Spanien arbeiten will. Diese Reisefreiheit: Ich kann von Berlin nach Split fahren, und keiner fragt mich nach meinen Papieren."
Seine Überzeugung: "Ich glaube, Europa funktioniert nur, wenn wir es erleben. Ich habe selber sieben Jahre in Griechenland gelebt. Das war schon prägend für meine Biographie. Und ich merke einfach, wie sich der Blickwinkel verändert, wie man dann mit einem Land verbunden ist, wenn man dort gelebt hat. Aber für viele ist Europa ein Europa der Institutionen, nicht der Menschen."
Europa müsse sich aber auch daran messen lassen, wie es mit den Flüchtlingen umgeht: "Es geht hier um Menschenrechte, um Leben und Tod. Und es geht darum, ob wir ein menschliches Europa wollen, das sich an seine Werte hält – oder nicht."
Was für ein Europa wollen wir?

Darüber diskutiert Klaus Pokatzky heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit Günter Verheugen und Nicol Lubic. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de sowie über Facebook und Twitter.

Informationen im Internet:
Über Günter Verheugen
Literaturhinweise:
Nicol Ljubic: Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde, DVA, München 2006
Nicol Ljubic: Meeresstille, Roman, Hoffmann und Campe, Hamburg 2010
Nicol Lubic: Als wäre es Liebe. Roman, Hoffmann und Campe, Hamburg 2012
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