Legende und Mythos der Bohème

"La Bohème" – von Bodo von Dewitz, Kurator der gleichnamigen Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, herausgegeben - versammelt Hunderte von Daguerreotypien und Fotografien von Künstlern aus dem späten Biedermeier und der Belle Epoque.
Henri Murger beschrieb 1851 erstmals das Leben armer Künstler im bürgerlichen Zeitalter. Damit begründete er den romantischen Mythos vom anarchischen Geist der Kreativen. Schon damals spielte die Fotografie eine bedeutsame Rolle: Sie diente der Darstellung und Selbstinszenierung von Künstlern ebenso wie der Dokumentation ihrer Arbeitsverhältnisse und Vergnügungswelten. Legende und Mythos der Bohème wirken bis heute fort in der Literatur, auf der Bühne, im Film sowie im Habitus zahlloser Künstler unserer Zeit.

"Die Bohème ist die Vorstufe des Künstlerlebens: sie ist die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zum Leichenschauhaus." So charakterisiert der französische Autor das Phänomen in seinem 1851 erschienenen Buch "Scènes de la Vie de Bohème": ein Durchgangsstadium, das durch Normverstöße in der Lebensführung provoziert und fasziniert.

Das Bild vom Künstler als Außenseiter, der in romantischer Armut lebt, wurde nicht selten heiter verklärt. Was für ein Missverständnis! Durch Puccinis Oper, die auf Murgers Urtext basiert, wurde die "Bohème" vollends popularisiert. Das Buch "La Bohème" – von Bodo von Dewitz, Kurator der gleichnamigen großen Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, herausgegeben - versammelt Hunderte von Daguerreotypien und Fotografien von Malern, Bildhauern, Literaten, Schauspielern, Sängern und Komponisten: Einzel- und Gruppenporträts, Atelierszenen, Ablichtungen von Historienspielen, von sogenannten Lebenden Bildern und Künstlerfesten aus dem späten Biedermeier und der Belle Epoque bis in die 1920er Jahre.

Es schließt mit Darstellungen von den Kölner Lumpenbällen und den legendären Bauhaus-Festen. George Grosz posiert als amerikanischer Gangster, der Kommunist Otto Dix wirft sich in Dandy-Pose, Gauguin spielt ohne Hose auf Muchas Harmonium und die Künstlergruppe "Sturmfackel" lässt sich gar bei einer Orgie ablichten. Der Schauspieler Désiré posiert 1865 als Jupiter, der sich in eine Fliege verwandelt hat (in Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt").

Alles in allem ein hinreißendes Buch über den Künstler als tabubrechenden Außenseiter und Star einer schillernden Halbwelt, aber auch als genialischen Hungerleider. Der Beginn dieses Kults – so macht das Buch deutlich - fällt mit der Erfindung der Fotografie zusammen. Neben Bildern von bedeutenden Fotografen wie Nadar, Alois Löcherer, Wilkie Wynfield, J. M. Cameron, August Sander und Lux Feininger umfasst es zahlreiche ungewöhnliche Aufnahmen unbekannter "Meister". Ein opulenter Bildband, der einen großen, fantasievollen Bogen schlägt von Paris über Düsseldorf, Köln und Hamburg bis zum Bauhaus in Weimar und Dessau, aber auch vom frühen 19. Jahrhundert ins 20. - aller Kriege und Katastrophen, die dazwischen lagen, zum Trotz.

Besprochen von Dieter David Scholz

Bodo von Dewitz (Hrg.): La Bohème. Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts
Steidl Verlag, Göttingen 2010
397 Seiten, 58 Euro