Legal, illegal, scheißegal

Von Hans Christoph Buch |
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kinderpornographie und so genannter normaler oder legaler Pornographie? Ja, es gibt ihn, und dieser Zusammenhang ist so evident, dass man ihn aus Angst, als lustfeindlich oder prüde abgestempelt zu werden, entweder nicht wahrnimmt oder bis zur Unkenntlichkeit relativiert.
Diese Einsicht liegt auf der Hand, aber sie passt nicht in unsere Gesellschaft, die im Zweifelsfall nach dem Prinzip „anything goes“ verfährt und sich Wunders was einbildet auf ihre vermeintliche Liberalität. Erst die Bedrohung durch Fundamentalisten jedweder Couleur – von deutschen Neonazis bis zu islamischen Terroristen – hat die Grenzen der Freiheit aufgezeigt, die ein wohlmeinendes Gutmenschentum so durchlässig machte, dass sie zu verschwimmen begannen – früher nannte man das „repressive Toleranz“.

Seit der Freigabe der Pornographie vor mehr als einem Vierteljahrhundert hat sich die Grenze des Erlaubten und vom Mainstream der Gesellschaft Akzeptierten immer weiter verschoben: Von Abbildungen nackter Busen, einst auch bei uns und in den USA noch heute tabu, über Geschlechtsteile in Großaufnahme bis zur voyeuristischen Darbietung des Sexualakts in allen möglichen oder unmöglichen Varianten, wobei die Unterscheidung zwischen normal und pervers anachronistisch wirkt und nur noch müdes Lächeln oder Gähnen hervorruft. Oral- und Analsex, Gummi- und Lederfetischismus sowie sadomasochistische Praktiken gehören heute zum gängigen Repertoire einer angeblich befreiten Sexualität, und werden, wenn man sie überhaupt noch wahrnimmt, wie Kreaturen der Tiefsee als seltsame Kuriositäten bestaunt.

Das Verbot ist der Motor der Lust, und nur in Extremfällen schiebt der Gesetzgeber dem Voyeurismus einen Riegel vor. Die Tötung eines Menschen vor laufenden Kameras ist nicht statthaft, auch wenn sie mit dessen Einverständnis oder gar auf sein Verlangen geschieht, während die Darstellung sexueller Folter weniger strengen Auflagen unterliegt als die dazugehörigen Accessoirs: SS-Uniformen sind erlaubt, doch um religiöse Gefühle nicht zu verletzen, dürfen Priester im Ornat, verschleierte Frauen oder Mullahs nicht in Pornofilmen gezeigt werden.

Die letzte, unüberschreitbare Grenze aber ist der sexuelle Missbrauch von Kindern, und es nimmt nicht wunder, dass dieses Tabu, ähnlich wie die zuvor genannten, nicht nur durchlöchert, sondern systematisch unterlaufen wird, denn auch der schärfste Reiz nutzt sich irgendwann ab. Pornographie macht süchtig, und oft dient ihr legaler Konsum nur als Einstiegsdroge, während man sich auf einer gleitenden Skala vom Anrüchigen und Anstößigen zum Verwerflichen und Verbotenen bewegt. Kaum eine Woche vergeht ohne Beschlagnahmung von kinderpornographischem Material im Internet, bei dessen Betrachtung selbst hart gesottenen Fahndern schlecht wird. Und das Erschreckende ist, dass es sich weniger um kriminelle Netzwerke von Mafiagangstern handelt als um Tauschbörsen ansonsten unbescholtener Bürger – vom Kleingärtner und arbeitslosen Polizisten bis zum Rechtsanwalt und Parteifunktionär. Noch erschreckender ist die von Experten bestätigte Tatsache, dass ein direkter Weg vom passiven Konsum zum Ausagieren pornographischer Phantasien, also vom Voyeurismus, zur Kinderschändung führt.

Nicht erst seit Freud wissen wir, dass Kinder keine asexuellen Wesen sind, aber hier geht es nicht um kindliche Sexualität, sondern um nackte Gewalt im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Und es fragt sich, ob der Gesetzgeber gut beraten war, als er die Pornographie vom Makel der Unmoral befreite und der Sexindustrie Tür und Tor öffnete, die zwar Steuern zahlt und Arbeitsplätze schafft, aber die Menschenwürde mit Füßen tritt, auf die man sich in Sonntagsreden so gern beruft. Der allseits beklagte Werteverfall war die ungewollte, aber vorhersehbare Folge dieser Politik.


Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung „Unerhörte Begebenheiten“. Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien. Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein lang erwartetes Romandebüt: „Die Hochzeit von Port au Prince“. Aus seinen Veröffentlichungen: „In Kafkas Schloß“, „Wie Karl May Adolf Hitler traf“, „Blut im Schuh“. 2004 erschien „Tanzende Schatten“.