Leere Teller, steigende Preise – Die Hintergründe der Hungerproteste

Rund 850 Millionen Menschen hungern weltweit, über 90 Prozent davon leben in den Entwicklungsländern. Ihre Verzweiflung löste Revolten in Nordafrika, Asien und Lateinamerika aus. „Dies ist das neue Gesicht des Hungers – Millionen Menschen, die vor sechs Monaten noch nicht unter akutem Hunger leiden mussten, tun es nun“, warnt Josette Sheeran, die Direktorin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP), das aktuell circa 70 Millionen Menschen in 78 Ländern versorgt. Die Folgen der steigenden Lebensmittelpreise glichen einem „stillen Tsunami“, der auf immer mehr Länder übergreife.
Doch dem Ernährungsprogramm gehen die Gelder aus – schon jetzt klafft eine Lücke von 750 Millionen Dollar, um die dringend notwendigen Nothilfe aufrechtzuerhalten. „Das ist ein langfristiger Trend, auf den wir auch schon seit längerem hingewiesen haben, sagt Ralf Südhoff, der Leiter das Berliner Büro des WFP. „Zum einen ist die boomende Nachfrage darauf zurückzuführen, dass die Chinesen und Inder mehr und auch anderes essen können, wie Milch- und Fleischprodukte. Schon unser Fleischkonsum ist ineffektiv. Man braucht sieben Kilo Getreide für ein Rind, um ein Kilo Fleisch heraus zu bekommen! Das heißt, es muss massenhaft Getreide eingesetzt werden. Dazu sorgt der Biospritboom für eine steigende Nachfrage. Dadurch gibt es einen Verdrängungsprozess: In Mexiko wird nicht mehr nur Mais für die Tortilla-Produktion angebaut, sondern für Biosprit. In Indonesien wird mehr Palmöl für die Sprit- und die Kosmetik-Industrie angebaut.“

Ralf Südhoff sieht in der aktuellen Situation aber auch Chancen:
„Die Entwicklungshilfe hat immer geklagt: Die Agrarpreise in den Ländern sind zu niedrig! Es lohnt sich nicht, zu investieren, für die Bauern lohnt es sich nicht, etwas anzubauen. Wir haben in der Tat die Situation, dass es sich für die Kleinbauern, die Viehzüchter kaum gelohnt hat, etwas zu produzieren, weil die Preise, die sie auf dem Markt erzielen konnten, viel zu niedrig waren. Jetzt sind die Preise hoch – das ist auch eine Chance! Aber es sind Subsistenzbauern, die nur für den eigenen Bedarf produzieren. Sie müssen Saatgut zukaufen, aber das ist teuer. Wir müssten ihnen für eine Übergangszeit unter die Arme greifen, mit Kleinstkrediten. Wenn wir es schaffen würden, dass sie langfristig von dem Boom profitieren, dann könnten sie sich selbst versorgen.“
Seine Forderung an die Politiker der Industriestaaten:
„Erstens: Ein Stopp der EU-Export-Subventionen, weil die sich direkt auswirken. Zweitens: Eine Öffnung der hiesigen Märkte für Produkte, die die Länder billig und wettbewerbsfähig absetzen können.“

Wie kann den Hungernden auf der Welt geholfen werden? Und wie kann eine Landwirtschaft der Zukunft aussehen?

Diese Fragen beschäftigen auch Prof. Dr. Hermann Waibel. Der Agrarökonom von der Leibnitz-Universität in Hannover untersucht die Situation der armen Landbevölkerung in Asien und Afrika. Gerade ist er von einer Forschungsreise durch Vietnam und Thailand zurückgekehrt, beides Länder, in denen die Bevölkerung auch unter den gestiegenen Reispreisen leidet. Dennoch komme es nicht zu gravierenden Hungersnöten. Der Grund: In Thailand betreiben viele Familien kleine landwirtschaftliche Betriebe, gleichzeitig arbeiten Familienmitglieder in der Stadt.

„Viele Taxifahrer in Bankok sind Bauern. Während der Reispflanzzeit fahren sie aufs Land zurück.“ Dieses Modell der Nebenerwerbsbetriebe bildet für Hermann Waibel eine der Säulen für eine Landwirtschaft der Zukunft.

Auch er plädiert dringend für eine Wende in der Entwicklungspolitik. Die lange vernachlässigte Landwirtschaft müsse gestärkt werden: „Der Bildungsgrad und der Wissensstand der ländlichen Bevölkerung müssen verbessert werden, damit sie die Technologie verstehen, die auf sie zukommen. Die Bauern verstehen nicht, wenn ihnen ein Konzern zum Beispiel Gentechnologie aufschwatzt. Man muss Ausbildungsmaßnahmen fördern, Beilhilfen geben, auch von Seiten der Industrie. Die hat doch auch ein Interesse daran. "

Von den aktuellen Schuldzuweisungen mancher Politiker hält er nichts: „Wenn ich Horst Seehofer höre, die Nahrungsmittelkonzerne sind Schuld, weil sie so hohe Gewinne machen. Ja, was sollen Sie denn sonst tun?! Gleichzeitig wird aber die EU-Landwirtschaft weiter subventioniert, weil sie so tolle Standards hat. Das ist Quatsch! Jetzt wäre die Gelegenheit, die Subventionen zu reduzieren und die Gelder umzuleiten und die Entwicklungshilfe umzustrukturieren. Das werden sie nicht machen, aber man muss einfach sehen, dass da Interessen im Spiel sind. Die Europäische Landwirtschaft ist doch froh, wenn die Preise hoch sind.“

„Leere Teller, steigende Preise – Die Hintergründe der Hungerproteste“ – Darüber diskutiert Dieter Kassel heute mit Ralf Südhoff und Prof. Dr. Hermann Waibel.
Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 und per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Informationen zum Thema:
Welternährungsprogramm: www.wfp.org
Prof. Dr. Hermann Waibel www.ifgb.uni-hannover.de/professor.html