Lebenswelten

Alltag mit gedrosseltem Tempo

Von Franziska Rattei · 25.11.2013
Zeit ist Geld, sagt man. Und deshalb gilt für viele in unserer Welt: Es muss alles immer schneller gehen. Ein Design-Student aus Bremen hatte eine andere Idee. Er hat einen Entschleunigerhelm entwickelt. Unsere Reporterin hat ihn getestet.
Potthast:"So!"
Autorin:"Es ist schon sehr eng hier drin ..."
Potthast: "Ja..."
Mein Kopf steckt in einer silbernen Kugel. Es riecht ein bisschen muffig und etwas nach Kleber. Viel Luft kriege ich nicht. Vor meinen Augen: eine Videobrille mit zwei kleinen Bildschirmen - für die nächsten paar Minuten die einzige Möglichkeit, meine Umgebung zu betrachten. In der linken oberen Ecke der Videobrille: eine Zahl. 1,0. Das steht für "normale Geschwindigkeit".
Potthast: "Jetzt mach ich's nur mal ein bisschen langsamer. Und wenn du deine Hand jetzt noch mal bewegst, siehst du schon …"
Autorin: "Ich beweg meine Hand und spür natürlich, wie ich mich beweg, aber in der Kamera, also durch die Videobrille, ist das alles viel langsamer."
Potthast:"Genau, und das verdeutlicht eigentlich ganz gut, wie deine Wahrnehmung und dein Wissen um die Umwelt immer mehr auseinandergehen."
Ich trage einen Entschleunigerhelm. Lorenz Potthast hat ihn entwickelt. Der 23-Jährige studiert integriertes Design an der Hochschule für Künste in Bremen. Seine Erfindung wiegt knapp eineinhalb Kilo; eine Kugel aus Aluminium - unten gerade so weit aufgesägt, dass mein Kopf durch die Öffnung gepasst hat. Damit die Kugel nicht verrutscht, ist innen ein Fahrradhelm befestigt. Daran ist auch die Videobrille angebracht. Die Bilder, die ich vor Augen habe, fängt eine kleine Kamera an der Außenseite des Helms ein. Anschließend werden die Daten von einem Laptop verrechnet. Den trage ich übrigens ebenfalls auf dem Kopf. Er ist oben auf dem Fahrradhelm festgemacht.
Während ich mich daran gewöhne, meine Umgebung digital wahrzunehmen, hält Potthast eine kleine Computermaus in der Hand. Damit kontrolliert er, wie langsam oder schnell die Zeit vor meinen Augen abläuft. Nach ein paar Minuten drückt er mir die Maus in die Hand.
Potthast: "Wenn du jetzt runterscrollst, ja, genau - dann ist es wirklich so langsam wie es geht. Wenn du jetzt wieder hochscrollst, dann wird's wieder schneller. Und dann kannst du quasi auch über die normale Geschwindigkeit drüber."
Autorin: "Genau, jetzt bin ich bei 1,701 - das heißt, alles was ich jetzt mach, wird schneller."
Potthast: "Genau, ist quasi 170 Prozent Geschwindigkeit."
Vor zwei Jahren kam der 23-Jährigen auf die Idee
Die Idee zum Entschleunigerhelm hatte Lorenz Potthast in einem Seminar vor rund zwei Jahren. Thema: "Back on focus. Weniger ist mehr." Die Design-Studenten sollten sich auf ihre zunehmend hektische und reizüberflutete Umwelt konzentrieren und Konzepte zur Verlangsamung entwickeln. Potthast war aufgefallen, dass es viele Menschen gibt, die sich einen gemächlicheren Alltag wünschen, dass aber kaum jemand versucht, das Tempo wirklich zu drosseln oder zumindest: es scheinbar zu verlangsamen. Deshalb hat der Student ein Gerät gebaut, das die Illusion vermittelt: das Leben läuft in Zeitlupe, wahlweise im Zeitraffer, ab. Eine Erfindung zwischen Kunst und Gesellschaftskritik.
Autorin: "Im Moment bin ich immer noch in der normalen Geschwindigkeit, aber man läuft echt wie auf Eiern, ne?"
Wir machen uns auf den Weg in die Mensa. Eine Alltagssituation eigentlich, aber mit dem Helm auf dem Kopf wirkt die Welt ganz weit weg, als ob ich meine Umwelt durch eine Wand wahrnehme. Lorenz Potthast nennt seine Erfindung auch gern "Reflexionsblase". Weil man mittendrin, aber doch abgeschirmt ist. Ich sehe Menschen, die mich angrinsen. Als ich auf sie reagiere, sind sie längst an mir vorbeigelaufen. Was ich sehe und was gerade passiert, ist nicht mehr dasselbe.
Potthast: "Und das ist das andere, was man relativ schnell entdeckt: dass man irgendwann anfängt, auf seine Wahrnehmung zu warten. Und ich kann das jetzt auch alles wieder vorspulen, damit du wieder in der Gegenwart ankommst …"
Lorenz Potthast kann das, was ich sehe, mitverfolgen. Auf der Außenseite des Helms ist ein kleiner Monitor befestigt. Darauf sind die Bilder zu sehen, die ich auch im Innern des Helms auf der Videobrille habe.
Wir fahren Aufzug. Neben mir steht eine Frau. Ich habe sie einsteigen hören, sehen kann ich sie erst ein paar Sekunden später. Was wir da machen, fragt sie und betrachtet sich selbst, im Monitor, außen auf dem Helm.
Frau: "Und wie ist das? Wie fühlt sich das an?"
Autorin: "Total verwirrend. Also, meine Wahrnehmung ist verlangsamt."
Besonders entspannend wirkt der Helm zunächst nicht
Ein Kommilitone von Lorenz Potthast - Thomas Frank - steht ebenfalls im Aufzug. Im Erdgeschoss angekommen, möchte er den Entschleunigerhelm auch gern einmal testen.
Potthast: "Ja. Du setzt den einfach mal auf und ruckelst den so ein bisschen zurecht. Ich mach ihn noch mal ein bisschen größer … "
Sobald der Helm sitzt und Frank die Fernbedienung in der Hand hält, macht er ein paar Schritte in Echtzeit. Danach versucht er auch die entschleunigte Geschwindigkeit.
Frank: "Man hat so ein bisschen das Gefühl, man verliert die Körperkontrolle über sich selber."
Das ist eigentlich die häufigste Reaktion der Helmträger, sagt Lorenz Potthast. Die meisten sind vor allem irritiert; besonders entspannend wirkt der Entschleunigerhelm nicht auf sie. Jedenfalls nicht, solange sie ihn tragen. Aber sobald die Testpersonen ihn absetzen und ihre Wahrnehmung wieder so funktioniert wie gewohnt, fühlen sich fast alle erleichtert und entspannt. Auch der Studienkollege von Potthast ist begeistert, als er den Helm wieder abnimmt:
Frank: "Puh. Moin! Ja, es fühlt sich ganz eigenartig an. Wie in so einer abgeschlossenen Höhle irgendwie. Als wenn man tatsächlich in einer digitalen Welt plötzlich lebt. Eigenartiges Gefühl, aber auch interessant. Haste gute gemacht, Lorenz. Richtig gut!"