Lebensprotokolle einer Dichterin
Sie gilt als eine der bedeutendsten Dichterinnen Argentiniens. Alejandra Pizarnik starb 1972 im Alter von gerade 36 Jahren. Ihre Tagebücher waren von vornherein als literarisches Projekt angelegt. Als Zeugnis ihrer vergeblichen Suche nach Liebe und Nähe machen sie deutlich, wie Leid in Sprache verwandelt werden kann.
Nachdem sie schon seit zehn Jahren ein Tagebuch schreibt, notiert die argentinische Dichterin Alejandra Pizarnik 1965: "Dieses Tagebuch, schreibe ich es für mich? Die Wahrheit ist: Ich habe Angst, und ich kann nicht in dieser Welt leben, aber ich will es, natürlich will ich es, ich weiß bloß nicht, wie man es macht."
Dabei hat die nicht einmal Dreißigjährige, Tochter jüdischer Einwanderer aus der Ukraine, in Argentinien zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Gedichtbände veröffentlicht. Sie ist als Lyrikerin anerkannt, verkehrt mit lateinamerikanischen Intellektuellen und Autoren wie Octavio Paz und Julio Cortazar und gehört zur Avantgarde ihrer Heimatstadt Buenos Aires. Sie konsumiert Drogen, hat Verhältnisse mit Männern und Frauen.
Ihr Schreiben ist existenziell. Nur im Schreiben und in kurzen Momenten körperlicher Vereinigung hält Alejandra Pizarnik die Angst vor dem Leben aus. Als soziales Geschöpf fühlt sie sich überfordert. Unfähig zu lieben und geliebt zu werden, ständig auf der Suche nach Unmittelbarkeit - bei höchster Reflexionsfähigkeit - sucht sie sexuelle Abenteuer: "Der Sex und das Schreiben erlauben mir, Gestalt anzunehmen." Die erfüllte Liebe bleibt aus. Auch mehrfache Psychoanalysen ändern nichts daran. Sie scheinen vor allem dem literarischen Werk zugute zu kommen.
Zwanzig Schreibhefte, sechs maschinegeschriebene Manuskriptbündel und etliche lose Blätter mit handschriftlichen Korrekturen: Alejandra Pizarniks Tagebücher machen deutlich, wie Leid in Sprache verwandelt werden kann. Der Leser erhält Einblick in eine dunkle, schmerzlich schöne Welt. Schmerzlich, weil viel von Angst und Todessehnsucht, von Einsamkeit, Verzweiflung und von Heimatlosigkeit als Frau und Jüdin die Rede ist. Dennoch schön, weil dies in einer Sprache geschieht, die kraftvoll und klar, unsentimental und ironisch ist.
Alejandra Pizarnik hat ihre Tagebücher immer wieder umgearbeitet. Sie sind ebenso Dichtung wie ihre Lyrik. Von Alltagserlebnissen berichten sie nicht. In der äußeren Realität ihrer Zeit scheint es keinen Platz für eine so widersprüchliche, sensible, enorm selbstkritische, intellektuell und sexuell anspruchsvolle Persönlichkeit gegeben zu haben. Namen aus ihrem Umfeld werden nur selten genannt, politische, zeithistorische Ereignisse kommen so gut wie gar nicht vor. Die Topographie von Buenos Aires, Paris oder New York - Orte, an denen die Aufzeichnungen entstanden sind - spielt keine Rolle. Alejandra Pizarnik beschreibt ihre innere Welt und den literarischen Prozess.
Die Tagebücher sind von vornherein als literarisches Projekt angelegt, als Experimentierfeld und Materialsammlung. Die Autorin reflektiert bereits mit den ersten Eintragungen das Schreiben. Sie versucht sich in unterschiedlichen literarischen Formen. Spielt mit Dialogen, gestaltet Träume, formuliert Aphorismen, entwickelt philosophische Gedankengänge. Und das Tagebuch ist Ort des Austausches mit den Dichtern der Weltliteratur.
Mit den Tagebüchern ist der Autorin, wohl ohne dass ihr das bewusst war, ein Roman über Glück und Unglück des Schreibens gelungen. Über das Scheitern der Frau und den Erfolg der Künstlerin.
Rezensent: Carsten Hueck
Alejandra Pizarnik: "In einem Anfang war die Liebe Gewalt - Tagebücher".
Aus dem argentinischen Spanisch von Klaus Laabs. Herausgegeben von Ana Becciu.
Zürich 2007, Ammann Verlag. 499 Seiten, 39,90 €.
Dabei hat die nicht einmal Dreißigjährige, Tochter jüdischer Einwanderer aus der Ukraine, in Argentinien zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Gedichtbände veröffentlicht. Sie ist als Lyrikerin anerkannt, verkehrt mit lateinamerikanischen Intellektuellen und Autoren wie Octavio Paz und Julio Cortazar und gehört zur Avantgarde ihrer Heimatstadt Buenos Aires. Sie konsumiert Drogen, hat Verhältnisse mit Männern und Frauen.
Ihr Schreiben ist existenziell. Nur im Schreiben und in kurzen Momenten körperlicher Vereinigung hält Alejandra Pizarnik die Angst vor dem Leben aus. Als soziales Geschöpf fühlt sie sich überfordert. Unfähig zu lieben und geliebt zu werden, ständig auf der Suche nach Unmittelbarkeit - bei höchster Reflexionsfähigkeit - sucht sie sexuelle Abenteuer: "Der Sex und das Schreiben erlauben mir, Gestalt anzunehmen." Die erfüllte Liebe bleibt aus. Auch mehrfache Psychoanalysen ändern nichts daran. Sie scheinen vor allem dem literarischen Werk zugute zu kommen.
Zwanzig Schreibhefte, sechs maschinegeschriebene Manuskriptbündel und etliche lose Blätter mit handschriftlichen Korrekturen: Alejandra Pizarniks Tagebücher machen deutlich, wie Leid in Sprache verwandelt werden kann. Der Leser erhält Einblick in eine dunkle, schmerzlich schöne Welt. Schmerzlich, weil viel von Angst und Todessehnsucht, von Einsamkeit, Verzweiflung und von Heimatlosigkeit als Frau und Jüdin die Rede ist. Dennoch schön, weil dies in einer Sprache geschieht, die kraftvoll und klar, unsentimental und ironisch ist.
Alejandra Pizarnik hat ihre Tagebücher immer wieder umgearbeitet. Sie sind ebenso Dichtung wie ihre Lyrik. Von Alltagserlebnissen berichten sie nicht. In der äußeren Realität ihrer Zeit scheint es keinen Platz für eine so widersprüchliche, sensible, enorm selbstkritische, intellektuell und sexuell anspruchsvolle Persönlichkeit gegeben zu haben. Namen aus ihrem Umfeld werden nur selten genannt, politische, zeithistorische Ereignisse kommen so gut wie gar nicht vor. Die Topographie von Buenos Aires, Paris oder New York - Orte, an denen die Aufzeichnungen entstanden sind - spielt keine Rolle. Alejandra Pizarnik beschreibt ihre innere Welt und den literarischen Prozess.
Die Tagebücher sind von vornherein als literarisches Projekt angelegt, als Experimentierfeld und Materialsammlung. Die Autorin reflektiert bereits mit den ersten Eintragungen das Schreiben. Sie versucht sich in unterschiedlichen literarischen Formen. Spielt mit Dialogen, gestaltet Träume, formuliert Aphorismen, entwickelt philosophische Gedankengänge. Und das Tagebuch ist Ort des Austausches mit den Dichtern der Weltliteratur.
Mit den Tagebüchern ist der Autorin, wohl ohne dass ihr das bewusst war, ein Roman über Glück und Unglück des Schreibens gelungen. Über das Scheitern der Frau und den Erfolg der Künstlerin.
Rezensent: Carsten Hueck
Alejandra Pizarnik: "In einem Anfang war die Liebe Gewalt - Tagebücher".
Aus dem argentinischen Spanisch von Klaus Laabs. Herausgegeben von Ana Becciu.
Zürich 2007, Ammann Verlag. 499 Seiten, 39,90 €.