Lebenslustiger Monarch im Musterstaat

Von Jochen Stöckmann · 18.03.2008
Seinem kleinen 23-jährigen Bruder Jérôme vertraute Napoleon 1807 das neugeschaffene Königreich Westphalen an. Der junge Franzose mochte vor allem "lustike" Partys, setzte aber auch politische Reformen um. Die Schau im Kasseler Fridericianum zeigt sowohl unter seiner Herrschaft verabschiedete Gesetzesdokumente als auch Gegenstände wie seine kostbare Tastuhr.
Kostbares Tafelgeschirr und edles Tuch, pompöse Draperien, Brillant besetzte Accessoires und jede Menge teure Kunst: Rubens, Rembrandt nebst altmeisterlichen Niederländern. So soll er – inmitten seiner Mätressen – gelebt haben, Jerôme, der kleine Bruder Napoleons, dem der französische Kaiser 1807 das neugeschaffene Königreich Westfalen anvertraute. Da war der frischgebackene Monarch gerade 23 Jahre alt:

Arnulf Siebeneicker: " Zu den wenigen Worten, die er wohl konnte, gehörte eine Abschlussfloskel nach seinen vielen Partys "Morgen wieder lustik!" Und was ihm dann zum Verhängnis wurde im 19. Jahrhundert: dass er das Klischee des leichtlebigen, flatterhaften Franzosen natürlich nahezu perfekt bediente. Es war sehr einfach, ihn auf diese Seite seines Wesens festzulegen und seine Reformen darüber zu vernachlässigen."

In Kassel entwirft Kurator Arnulf Siebeneicker ein facettenreiches Gegenbild zu dem, was die deutsche Historiographie lange Zeit als "Besatzerregime" und "Fremdherrschaft" recht einseitig ausmalte. Im Fridericianum, wo 1810 immerhin das erste Parlament auf deutschem Boden zusammentrat, beginnt der Rundgang mit einer Jakobinermütze, dem Symbol revolutionären Bürgersinns. Damit allerdings war es in deutschen Landen nicht weit her. Politische Veränderungen, gesellschaftliche Umwälzungen wurden von außen angestoßen, weniger durch rohe Gewalt der Bajonette als durch Überzeugungskraft grundlegender Verfassungstexte, die Napoleon dem Bruder diktierte:

" Wir haben aus dem Familienbesitz zwei sehr wichtige politische Dokumente bekommen: Das persönliche Exemplar Jérômes der Verfassung des Königreichs Westfalens, was ja immerhin die erste Verfassung eines deutschen Staates ist, und auch das persönliche Exemplar Jérômes des Code Napoléon, des wichtigsten Gesetzbuches dieser Epoche."

Unter Napoleon musste das Rot der Revolution dem Purpur des Kaiserornats weichen. Solche Herrscherporträts gab auch Jérôme in Auftrag. Ob meterhoch in Öl oder massenhaft verbreitet als Grafik – die überkommene Geste gab stets die gleiche Antwort auf eine für Monarchen ganz neue Frage:

" Wie stelle ich mich dar als ein König, der sich auf eine Verfassung, eine Konstitution berufen muss? Und Napoleon hat eine Formel gefunden, er hat eine ganz neue Ikonographie entwickelt, die ihn mit dem ausgestreckten Arm der Gerechtigkeit – was eigentlich ein mittelalterliches Herrschersymbol ist – über dem Code Napoléon oder über der Verfassung zeigt."

Solche Dokumente sind natürlich auch zu sehen: Gesetze über ein neues Familienrecht und das einheitliche Maßsystem, Edikte zur Abschaffung der Leibeigenschaft und zur Emanzipation der Juden, Verordnungen gegen Stockschläge und Beleidigung der Untergebenen in der Armee. Dem Schriftsteller Arno Schmidt war soviel Reformwille 1954 immerhin die Schlagzeile "Das Musterkönigreich Westfalen" wert. Den von Napoleon verjagten, durch Soldatenhandel reich gewordenen Kurfürsten stufte er dagegen als "Seelenverkäufer" ein.

Was sich aber mit Jérôme änderte, wird anschaulich, im besten Sinne augenfällig durch kulturhistorische Objekte vom Zierdegen über den Brautstuhl und das Wirtshausschild bis hin zu Modellen einer Manufaktur oder neuartiger Bergwerks-Loren. Die Imagination beflügelt das Zusammentreffen erlesener Fundstücke wie etwa Kanonenkugeln vom Schlachtfeld zu Auerstedt mit Jérômes sogenannter Tastuhr, einem bläulich schimmernden, mechanischen Wunderwerk, reich besetzt mit zierlichen Diamanten:

Michael Eissenhauer: " Wir konnten die zentralen Leitobjekte unmittelbar zum Sprechen bringen. Zum Teil mit herausragenden, erstklassigen, vorzüglichen Kunstwerken und historischen Dokumenten allererster Qualität. Also eine Argumentation über das Königreich Westfalen, über die geschichtliche Bedeutung, die außergewöhnlich ist – und die mich selber auch überrascht."

Michael Eissenhauer, Direktor der Museumslandschaft Hessen Kassel, hat das außergewöhnliche, 2,2 Millionen Euro teure Projekt nicht nur von 180 Leihgebern reich bestücken, sondern über drei Jahre lang auch im eigenen Haus wissenschaftlich gründlich begleiten lassen. Das zahlt sich aus, berichtet Kurator Thorsten Smidt:

" Eine der größten Entdeckungen ist sicherlich ein unvollendetes Napoleonporträt, was bislang einem nachgeordneten Hofmaler zugeschrieben war. Und wir haben herausgefunden, dass es sich um ein Porträt des wichtigsten Künstlers der napoleonischen Zeit, nämlich von Jacques-Louis David handeln muss. Das ist eine absolute Sensation: Es gibt keinen einzigen David in Kassel bisher, jetzt haben wir einen und er ist das Glanzstück dieser Ausstellung."

Für das Publikum gibt es dazu kleinere Überraschungen gleich im Dutzend: die Bauzeichnungen von Leo von Klenze für ein Hoftheater, das erste realisierte Werk dieses Architekten. Oder den eleganten, silberbestickten Staatsfrack von Jakob Grimm, der wie sein Bruder als Bibliothekar in die Dienste von Jérôme getreten war – und dort auf einen alten Bekannten stieß. Arnulf Siebeneicker:

" Die Berufung Johannes von Müllers war einer der größten politischen Coups von Napoleon und von Jérôme, denn dieser Gelehrte war damals so berühmt wie Goethe. Aber dieser Historiker war ein Gelehrter, der mit den Ansprüchen der Macht nicht zurechtkam. Nach einer Demonstration von Hallenser Studenten hat Jérôme ihn angebrüllt, er wolle keine Studenten mehr, er wolle nur noch Soldaten. Und das hat sich Johannes von Müller so zu Herzen genommen, dass er dann drei Tage später gestorben ist."

Müller – der nach einigen Tagen als Premierminister das Wissenschaftsressort übernahm – musste nicht mehr mit ansehen, wie militärische Aufstände einen Modellstaat erschütterten, der vor allem unter Napoleons Begehrlichkeiten zu leiden hatte, der dem französischen Kaiser neben überzogenen Kontributionszahlungen auch ein Kontingent von 25.000 Soldaten zu stellen hatte. Auf Napoleons Konto geht denn auch der Kunstraub, den der kenntnisreiche Vivant-Denon organisierte, der Gründer des Louvre. Dort immerhin konnten die Brüder Grimm 1815 viele der Gemälde erfolgreich für Kassel reklamieren, doch jene Bilder, die sozusagen "privat" an Kaiserin Josephine gegangen waren, blieben bislang unerreichbar, waren zum Großteil an den russischen Zaren verkauft worden. Nun aber kehrt der "Tageszeitenzyklus" von Claude Lorrain für einige Wochen zurück - als spektakuläre Leihgabe der Petersburger Ermitage. Und damit dürfte auch Jérômes Ansehen noch einmal aufgebessert werden, folgt man Direktor Eissenhauer:

" Immerhin hat dieser Modellstaat auf deutschem Boden Vorläufercharakter für die republikanisch-demokratische Verfasstheit – und insofern ist meines Erachtens die Bilanz eine positive. Dass – und jetzt muss ich natürlich mit meinem Herz als Kunsthistoriker sprechen – dass es natürlich für unsere Gemäldegalerie, die üppig, opulent und großartig ist, noch ein kleines bisschen opulenter wäre, wenn die vier Lorrain-Bilder noch da wären, das möchte ich ja gar nicht abstreiten."

Service:
Die Hessische Landesausstellung 2008, "Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen", ist im Museum Fridericianum vom 19. März bis 29. Juni 2008 zu sehen.