Lebenslügen der Achtundsechziger
Einige kurz vor oder im Rentenalter stehende Apologeten der Revolte werden nicht müde, ihr einstiges Tun als nachholende Demokratisierung und Zivilisierung der Bundesrepublik zu beschreiben. Linke Gewalt und sogar Terror seien nur Gegengewalt und von daher gerechtfertigt gewesen. Zudem behaupten sie weiterhin hartnäckig, erst sie hätten umfassend über die Verbrechen der Nationalsozialisten aufgeklärt und generell die erstarrten Strukturen der Gesellschaft aufgebrochen.
Bei näherem Hinsehen werden diese Behauptungen jedoch als Lebenslügen einer Generation sichtbar, die sich seinerzeit rühmte, die schwarzen Flecken in den Biographien ihrer Eltern entlarvt zu haben. Doch auch sie mutieren zu Meistern der Verdrängung, wenn es um die dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit geht.
Bei den gewalttätigen Aktionen der 68er handelte es sich keineswegs nur um Gegengewalt, im Gegenteil: Ein Plädoyer für die Notwendigkeit revolutionärer Gewalt hielt ihr Wortführer und Medienstar Rudi Dutschke schon im Februar 1966 – also mehr als ein Jahr vor den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Er plädierte für eine Propaganda der Tat und für illegale Aktionen; in seinen Aufzeichnungen finden sich bereits zu diesem Zeitpunkt Überlegungen zum Aufbau eines urbanen militärischen Apparates der Revolution. Im September 1967 forderte er, der SDS müsse zu einer politischen Organisation von Guerillakämpfern werden, die ausgehend von der Universität den Kampf gegen die bürgerlichen Institutionen führt. Damit war schon frühzeitig das wirkliche Ziel der linksradikalen Bewegung benannt: die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen, der Kleinfamilie, der Marktwirtschaft, aber auch der Konventionen. Vor allem an den Universitäten schlugen verbale rasch in gewaltsame Provokationen um.
Zwar klagten die 68er ihre Elterngeneration an, dem Faschismus gedient zu haben, und skandalisierten zu Recht die ungebrochenen Karrieren vieler Nazis nach 1945, ihre eigene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus reduzierte sich aber auf eine Kritik am Kapitalismus. Für die jugendlichen Revolteure rückten die USA und Israel in die Rolle des Sündenbocks. Den Zivilisationsbruch der Nazis, vor allem die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen Juden, thematisierten sie, wenn überhaupt, nur am Rande. Statt Aufklärung betrieb man eine Verklärung der NS-Zeit. Mit der vielfach skandierten Parole "USA – SA – SS" wurden ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika zum Nachfolger des NS-Systems erklärt. Gleichzeitig blieb eine breite Mehrheit der Aufbegehrenden auf dem linken Auge blind: Die Verbrechen des Kommunismus wurden ignoriert oder sogar gutgeheißen.
Spätestens nach dem Sechs-Tage-Krieg im Nahen Osten 1967 identifizierten sich die meisten Linksradikalen mit einem linken Antizionismus, der mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Politik Israels und einer vorbehaltlosen Unterstützung palästinensischer Terrorgruppen einherging und immer in Gefahr stand, auch antisemitische Züge anzunehmen. Die erste Bombe der radikalen Linken richtete sich gegen Juden. Zur Begründung des gescheiterten Anschlags auf das jüdische Gemeindezentrum in West-Berlin am 9. November 1969 kennzeichneten die Täter die durch die Nazis vertriebenen Juden als Faschisten, die nun das palästinensische Volk ausradieren wollten. Die vermeintlich antiautoritäre Bewegung ging schon Ende der sechziger Jahre durch die Gründung von kommunistischen Parteien in eine zutiefst autoritäre und reaktionäre über.
Erst wenn sich die Akteure auch zu den dunklen Seiten ihres seinerzeitigen Wirkens bekennen, können Sie vielleicht auch die eigentlich spannenden Fragen zu 68 beantworten: Warum entstand und verbreiterte sich die Revolte, als die Zivilisierung der Bundesrepublik manifest wurde? Und: Warum führte eine vermeintlich humanistische und basisdemokratische Bewegung zur Gründung dogmatischer und stalinistischer Gruppierungen?
Eines dürfte jedoch unstrittig sein: Die Aktivisten und Mitläufer der Bewegung waren geprägt von einem intellektuellen und machtpolitischen Größenwahn; hinzu kamen nicht selten diffuse Gewaltbereitschaft und ausgeprägte Gewaltphantasie. Entgegen der Erinnerung vieler Akteure und Sympathisanten, die ihre Revolte subjektiv als Aufbruch, als Phase des Experimentierens empfinden, waren bedeutende Teile der 68er APO antidemokratisch und antiwestlich und in einer zivilisationskritischen Perspektive sogar antimodern und antiaufklärerisch. Gemeinschaft statt Gesellschaft, verordnete Parteilichkeit statt Pluralismus, Diktatur des Proletariats statt repräsentativer Demokratie, Intoleranz und Stigmatisierung von Andersdenkenden statt freiheitlicher Diskurs – das waren entscheidende Wesensmerkmale der 68er-Bewegung.
Der 1949 in Lübeck geborene Klaus Schroeder leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. Gerade ist erschienen: "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006.
Bei den gewalttätigen Aktionen der 68er handelte es sich keineswegs nur um Gegengewalt, im Gegenteil: Ein Plädoyer für die Notwendigkeit revolutionärer Gewalt hielt ihr Wortführer und Medienstar Rudi Dutschke schon im Februar 1966 – also mehr als ein Jahr vor den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Er plädierte für eine Propaganda der Tat und für illegale Aktionen; in seinen Aufzeichnungen finden sich bereits zu diesem Zeitpunkt Überlegungen zum Aufbau eines urbanen militärischen Apparates der Revolution. Im September 1967 forderte er, der SDS müsse zu einer politischen Organisation von Guerillakämpfern werden, die ausgehend von der Universität den Kampf gegen die bürgerlichen Institutionen führt. Damit war schon frühzeitig das wirkliche Ziel der linksradikalen Bewegung benannt: die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen, der Kleinfamilie, der Marktwirtschaft, aber auch der Konventionen. Vor allem an den Universitäten schlugen verbale rasch in gewaltsame Provokationen um.
Zwar klagten die 68er ihre Elterngeneration an, dem Faschismus gedient zu haben, und skandalisierten zu Recht die ungebrochenen Karrieren vieler Nazis nach 1945, ihre eigene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus reduzierte sich aber auf eine Kritik am Kapitalismus. Für die jugendlichen Revolteure rückten die USA und Israel in die Rolle des Sündenbocks. Den Zivilisationsbruch der Nazis, vor allem die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen Juden, thematisierten sie, wenn überhaupt, nur am Rande. Statt Aufklärung betrieb man eine Verklärung der NS-Zeit. Mit der vielfach skandierten Parole "USA – SA – SS" wurden ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika zum Nachfolger des NS-Systems erklärt. Gleichzeitig blieb eine breite Mehrheit der Aufbegehrenden auf dem linken Auge blind: Die Verbrechen des Kommunismus wurden ignoriert oder sogar gutgeheißen.
Spätestens nach dem Sechs-Tage-Krieg im Nahen Osten 1967 identifizierten sich die meisten Linksradikalen mit einem linken Antizionismus, der mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Politik Israels und einer vorbehaltlosen Unterstützung palästinensischer Terrorgruppen einherging und immer in Gefahr stand, auch antisemitische Züge anzunehmen. Die erste Bombe der radikalen Linken richtete sich gegen Juden. Zur Begründung des gescheiterten Anschlags auf das jüdische Gemeindezentrum in West-Berlin am 9. November 1969 kennzeichneten die Täter die durch die Nazis vertriebenen Juden als Faschisten, die nun das palästinensische Volk ausradieren wollten. Die vermeintlich antiautoritäre Bewegung ging schon Ende der sechziger Jahre durch die Gründung von kommunistischen Parteien in eine zutiefst autoritäre und reaktionäre über.
Erst wenn sich die Akteure auch zu den dunklen Seiten ihres seinerzeitigen Wirkens bekennen, können Sie vielleicht auch die eigentlich spannenden Fragen zu 68 beantworten: Warum entstand und verbreiterte sich die Revolte, als die Zivilisierung der Bundesrepublik manifest wurde? Und: Warum führte eine vermeintlich humanistische und basisdemokratische Bewegung zur Gründung dogmatischer und stalinistischer Gruppierungen?
Eines dürfte jedoch unstrittig sein: Die Aktivisten und Mitläufer der Bewegung waren geprägt von einem intellektuellen und machtpolitischen Größenwahn; hinzu kamen nicht selten diffuse Gewaltbereitschaft und ausgeprägte Gewaltphantasie. Entgegen der Erinnerung vieler Akteure und Sympathisanten, die ihre Revolte subjektiv als Aufbruch, als Phase des Experimentierens empfinden, waren bedeutende Teile der 68er APO antidemokratisch und antiwestlich und in einer zivilisationskritischen Perspektive sogar antimodern und antiaufklärerisch. Gemeinschaft statt Gesellschaft, verordnete Parteilichkeit statt Pluralismus, Diktatur des Proletariats statt repräsentativer Demokratie, Intoleranz und Stigmatisierung von Andersdenkenden statt freiheitlicher Diskurs – das waren entscheidende Wesensmerkmale der 68er-Bewegung.
Der 1949 in Lübeck geborene Klaus Schroeder leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. Gerade ist erschienen: "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006.

Klaus Schroeder© privat