Lebenslanges Lernen

Zu Gast: Prof. Dr. Gerald Hüther, Hirnforscher und Neurobiologe · 15.11.2008
Sudokus, Kreuzworträtsel, Spiele à la Dr. Kawashimas Gehirnjogging - der Denksportmarkt boomt wie nie zuvor. Allein das Spiel des japanischen Neurologen Ryuta Kawashima hat sich weltweit mehr als 20 Millionen Mal verkauft.
Doch halten solche Trainingsprogramme wirklich, was sie versprechen?
Und wie können wir unser Gehirn tatsächlich fit halten und dazu noch effektiv nutzen?

Sudokus, Kreuzworträtsel, Spiele à la Dr. Kawashimas Gehirnjogging - der Denksportmarkt boomt wie nie zuvor. Einer aktuellen Umfrage der Zeitschrift "Healthy Living" zufolge trainieren die Bundesbürger ihr Gehirn elf Stunden pro Woche, um auch geistig fit zu bleiben. Allein das Spiel des japanischen Neurologen Ryuta Kawashima hat sich weltweit mehr als 20 Millionen Mal verkauft.

Doch halten solche Trainingsprogramme wirklich, was sie versprechen?
Und wie können wir unser Gehirn tatsächlich fit halten und dazu noch effektiv nutzen?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich Prof. Dr. Gerald Hüther seit mehr als drei Jahrzehnten. Der Hirnforscher leitet die Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen.

"Ich würde mein Hirn immer mehr im realen Leben trainieren, beim Gartenumgraben, Spazierengehen im Wald. Aber es gibt eine Reihe von Menschen, die das nicht können, da ist so ein Spielzeug besser als gar nichts."

Das Gehirn sei im Laufe der Evolution nicht zum Auswendiglernen optimiert worden, sondern zum Lösen von immer neuen Problemen. Es sei keine Rechenmaschine, sondern ein "soziales Organ".

Seine Erkenntnis: Das Gehirn wird durch soziale Erfahrungen strukturiert, es lernt am besten im sozialen Verbund, in Beziehungen. Das pure Pauken von Zahlenreihen, das Lösen von Sudokus oder Gehirnjogging am Computer seien schöne Lernspiele – er bezweifelt aber ihre positiven Auswirkungen für das Gehirn.

"Dann kann ich gut kombinieren, das ist das, was übrig bleibt. Aber vergleichen Sie das mit den Erfahrungen, die man macht, wenn man mit einer Gruppe einen Berg besteigt: Sie machen körperliche Erfahrungen, spirituelle, sie müssen gut planen. Dabei entstehen wesentlich komplexere Erfahrungen. Lernspiele richten sich an die alte Vorstellung, dass das Denken und Wissen das Entscheidende sei für uns. Die neurobiologische Erkenntnis ist, dass wir anstelle des Wissens die Erfahrung setzen."

Das Gehirn sei darauf geeicht, Gelerntes praktisch anzuwenden, dadurch würden jene Vernetzungen geschaffen, die wichtig für seine lebenslange Funktion seien – und das könne in jedem Alter passieren.

Der 57-jährige Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher zur Hirnforschung plädiert daher dafür, grundsätzlich neue Wege im Lernen zu gehen – von Kindesbeinen an.

"Kinder gehen in die Schule und lernen viel und sie machen die Erfahrung, Lernen und Schule ist Scheiße. Wenn man einmal die Lernlust verloren hat, ist es schwer, sie wieder zu erwecken." Zumal Schüler zuviel lernen müssten, was sie nie wieder in ihrem Leben brauchen. In einer alternden Gesellschaft gehe es aber gerade darum, die Lernlust so lange wie möglich wach zu halten.

"Wenn wir im Alter gute Lerner bleiben wollen, müssen wir als Kinder in Bedingungen aufwachsen, wo das Lernen Spaß macht. An vielen Schulen machen die Schüler aber das, was ich eine ´bulimische Erfahrung` nenne: Sie müssen sich ganz schnell Wissen rein fressen, um es bei den Prüfungen wieder schnell auszuspucken. Dabei gilt beim Lernen das ´Matthäus-Prinzip`: Wer hat, dem wird gegeben. Wer am Anfang des Lebens mit Entdeckerlust startet, der entdeckt immer mehr. Dadurch werden komplexerer Strukturen im Gehirn geschaffen, und umso offener bleibt er für Neues bis ins Alter."

Das menschliche Gehirn habe ein unglaubliches Potenzial – man müsse es nur lebenslang herausfordern, sonst verkümmere es.

Seine Überzeugung: "Das Gehirn wird so, wie man es benutzt."

"Lebenslanges Lernen – Wie können wir unser Gehirn effektiv nutzen?"
Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit dem Neurobiologen Gerald Hüther. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 – 2254 2254 oder per E-Mail per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Literaturhinweis:
Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Verlag Vandenhoek & Ruprecht Göttingen
Weitere Bücher von Prof. Hüther sind ebenfalls im Verlag Vandenhoek & Ruprecht erschienen.