Lebenslanger Kampf gegen das Vergessen
Das Alter könnte erstmals in der Menschheitsgeschichte für viele angenehm sein, wäre da nicht neben manch anderen Einschränkungen die erhöhte Vergesslichkeit und die mit ihr einhergehende Angst vor Demenz und Alzheimer. Dass die altersbedingten Veränderungen des Gedächtnisses nicht nur ein Verlust, sondern auch ein Gewinn sind, zeigt der niederländische Psychologe Douwe Draaisma in seinem Buch "Die Heimwehfabrik".
Im Alter verringert sich das Konzentrationsvermögen, die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses und die Geschwindigkeit, mit der neue Mengen gleichzeitiger Informationen verarbeitet werden. Auch die Gedächtnisprobleme nehmen zu. Wir vergessen, was vielen peinlich ist, Namen und Begriffe.
Draaisma tröstet: Wir würden nämlich lebenslang gegen das Vergessen kämpfen. Jüngeren gehe es im Prinzip nicht anders, nur verliere man den Kampf eben immer öfter. Vor allem aber lasse das prospektive Gedächtnis nach. Das künftige Vorhaben wollte man im Kopf behalten, man war durchaus nicht zerstreut und in Gedanken abwesend – und doch ist es fort.
Den wachsenden Markt mit Angeboten zum Gedächtnistraining schildert Draaisma mit ironischer Distanz. Das Gedächtnis sei kein Muskel, der unbenutzt verkümmere; er könne daher auch nicht trainiert werden. Wichtig sei es, sein Leben weiterzuführen und sich nicht zu isolieren. Schon, damit man die eigenen Schwierigkeiten auch bei anderen erkennt.
Der Psychologe will allerdings mehr als beruhigen, er will auch die Richtung unseres Blickes ändern. Unsere Aufmerksamkeit und auch die der Gedächtnispsychologie gelte vor allem dem Vergessen, dem Bewahren vorhandener und der Aufnahme neuer Informationen. Dabei seien Erinnerungen vieldeutig: Sie könnten Erlebtem gelten, Erinnerungen an Erinnerungen sein oder auch an Fotos, die das Erlebte überlagern.
Erinnerungen könnten zudem Jahre später völlig anders beurteilt werden. Und sie könnten erstmals aus der Tiefe der Zeit auftauchen. Diesen Reminiszenzeffekt als eigene Leistung des alternden Gedächtnisses umkreist das Buch. Den umfassenden Anspruch des Untertitels "Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert", löst es dagegen nicht ein.
Den Reminiszenzeffekt beobachtet Draaisma etwa in Günter Grass' Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel". Aus den ersten 15 der erzählten 32 Lebensjahre habe der Autor kaum etwas zu berichten, aus den folgenden dagegen sehr viel, während die letzten zehn wieder vergleichsweise knapp abgehandelt werden und er am Ende mit der Bemerkung abbreche, ihm fehle die Lust, den Rest zu erzählen. Diese typische Reminiszenzstruktur mit einer Ballung von Erinnerungen um das 20. Lebensjahr herum verrät Draaisma, dass der Autor älter ist.
Warum es den Erinnerungshöcker um das 20. Lebensjahr herum gibt, weiß die Psychologie nicht. Sie hat sich lange nur für die Verlässlichkeit der Erinnerungen und für die Aufnahme neuer Informationen interessiert, tadelt Draaisma. Fasziniert und leicht verständlich, aufgelockert durch viele Fallbeispiele, erzählt er von jüngeren Erklärungsansätzen für das seltsame Phänomen, dass über manche Wahrnehmungen und Gedanken eine jahrzehntelange Nachrichtensperre verhängt wird, bis sie sich im Alter in großer Frische erstmals aufdrängen und Heimweh erzeugen. Daher der Titel: Douwe Draaisma nennt die verstreichende Zeit eine "Heimwehfabrik".
Besprochen von Jörg Plath
Douwe Draaisma: Die Heimwehfabrik. Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2009
174 Seiten, 16,95 Euro
Draaisma tröstet: Wir würden nämlich lebenslang gegen das Vergessen kämpfen. Jüngeren gehe es im Prinzip nicht anders, nur verliere man den Kampf eben immer öfter. Vor allem aber lasse das prospektive Gedächtnis nach. Das künftige Vorhaben wollte man im Kopf behalten, man war durchaus nicht zerstreut und in Gedanken abwesend – und doch ist es fort.
Den wachsenden Markt mit Angeboten zum Gedächtnistraining schildert Draaisma mit ironischer Distanz. Das Gedächtnis sei kein Muskel, der unbenutzt verkümmere; er könne daher auch nicht trainiert werden. Wichtig sei es, sein Leben weiterzuführen und sich nicht zu isolieren. Schon, damit man die eigenen Schwierigkeiten auch bei anderen erkennt.
Der Psychologe will allerdings mehr als beruhigen, er will auch die Richtung unseres Blickes ändern. Unsere Aufmerksamkeit und auch die der Gedächtnispsychologie gelte vor allem dem Vergessen, dem Bewahren vorhandener und der Aufnahme neuer Informationen. Dabei seien Erinnerungen vieldeutig: Sie könnten Erlebtem gelten, Erinnerungen an Erinnerungen sein oder auch an Fotos, die das Erlebte überlagern.
Erinnerungen könnten zudem Jahre später völlig anders beurteilt werden. Und sie könnten erstmals aus der Tiefe der Zeit auftauchen. Diesen Reminiszenzeffekt als eigene Leistung des alternden Gedächtnisses umkreist das Buch. Den umfassenden Anspruch des Untertitels "Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert", löst es dagegen nicht ein.
Den Reminiszenzeffekt beobachtet Draaisma etwa in Günter Grass' Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel". Aus den ersten 15 der erzählten 32 Lebensjahre habe der Autor kaum etwas zu berichten, aus den folgenden dagegen sehr viel, während die letzten zehn wieder vergleichsweise knapp abgehandelt werden und er am Ende mit der Bemerkung abbreche, ihm fehle die Lust, den Rest zu erzählen. Diese typische Reminiszenzstruktur mit einer Ballung von Erinnerungen um das 20. Lebensjahr herum verrät Draaisma, dass der Autor älter ist.
Warum es den Erinnerungshöcker um das 20. Lebensjahr herum gibt, weiß die Psychologie nicht. Sie hat sich lange nur für die Verlässlichkeit der Erinnerungen und für die Aufnahme neuer Informationen interessiert, tadelt Draaisma. Fasziniert und leicht verständlich, aufgelockert durch viele Fallbeispiele, erzählt er von jüngeren Erklärungsansätzen für das seltsame Phänomen, dass über manche Wahrnehmungen und Gedanken eine jahrzehntelange Nachrichtensperre verhängt wird, bis sie sich im Alter in großer Frische erstmals aufdrängen und Heimweh erzeugen. Daher der Titel: Douwe Draaisma nennt die verstreichende Zeit eine "Heimwehfabrik".
Besprochen von Jörg Plath
Douwe Draaisma: Die Heimwehfabrik. Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2009
174 Seiten, 16,95 Euro