Lebensläufe

Von Gunther Hofmann |
"Lebensläufe lassen sich nicht auf Flaschen ziehen". Das war einer der Kernsätze, mit denen Willy Brandt sich 1987 in einer großen Rede von der Spitze seiner Partei verabschiedete. Dieser Satz kommt mir unwillkürlich in Erinnerung beim Lesen der Nachrufe auf den jüngst verstorbenen Autor, Journalisten und Historiker Joachim Fest sowie der Erinnerungsbücher von ihm und Günter Grass.
Brandts Bemerkung seinerzeit zielte darauf, dass er sich als einer der letzten sah, der gerade aus der aktiven Politik ausschied – und dessen Lebenslauf von der europäischen Geschichte, von dem deutschen Menschheitsverbrechen, und natürlich von einem starken Ego geprägt war.

Joachim Fest, mit knapp achtzig Jahren gestorben, hatte einen vollkommen anderen Lebenslauf, und das gilt dann auch wieder für den Schriftsteller Günter Grass, gleichaltrig, der zu dem konservativ-bürgerlichen Fest das links-bürgerliche intellektuelle Kontrastprogramm darstellte. Wie beide Erinnerungen evozieren, stammte nun gerade Fest aus einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus, weshalb er auch glaubt, keiner von ihnen sei je anfällig für die Hitlerei gewesen. Allerdings landet er bei der Luftwaffe. Ich nicht!, betitelt er sein Buch.

Grass hingegen betrachtet verwundert den fremden Jungen, der er ist und doch nicht ist, der an den Nationalsozialismus glaubte und zuletzt für vier Monate ausgerechnet bei der SS landete. Ich ja!, hätte er seine Erinnerungen also titulieren können. Personen wie Brandt und Wehner, Fest oder Grass, man könnte auch sagen Weizsäcker oder Schmidt, Walser oder Habermas haben das geistig-politische Milieu der Republik geprägt. Keiner soll hier über einen Leisten mit dem anderen geschlagen werden. Aber diese existentielle Erfahrung, die reale Geschichte, hatte ihr Leben vollkommen geprägt – und die Bundesrepublik hat davon profitiert, dass sie sich aus der Politik nicht heraushielten.

Die Generationen danach, wir, haben in der Regel glattere Lebensläufe, Angestelltenbiographien. Fest und Grass waren in einer gewissen Weise aber auch Gefesselte. Grass hat permanent geredet und geschrieben, und sich, wie er heute findet, damit aus Scham über eine Wunde im Leben hinweggeschwiegen; Fest hat permanent erklären wollen und verstehen und alles zeigen. Beide wurden Ikonen, Fest allerdings werden heute fast durchweg Hymnen gesungen, während Grass doch viele enttäuscht hat.

Erinnern möchte ich allerdings daran, dass in diesem Gefesseltsein nicht nur Grass, auch Fest auffällig falsch urteilte. Er hat ein Bild von Albert Speer geliefert, das suggerierte, dass man sozusagen in Hitlers Nähe arbeiten und gleichwohl "rein" bleiben konnte; er hat auch zu erklären versucht, was jemanden wie Speer an Hitler fasziniert haben könnte. Aber Speer hat ein Trugbild von sich selbst geliefert, der große Kenner Fest hat es nicht durchschaut. Warum? Erinnern muss man auch daran, dass Fest mit der Veröffentlichung eines Textes über das "Vergehen der Vergangenheit" aus der Feder des Historikers Ernst Nolte den Anlass zum berühmten Historikerstreit lieferte. Es war ein Missgriff. Nolte wollte, wie man lernte, tatsächlich relativieren und reinwaschen. Noch kurz vor seinem Tod hat Fest Grass wegen dessen Verschweigen attackiert und ihm zugerufen, das Bürgertum habe eben nicht so moralisch versagt, wie andere, die bei der SS landeten. Es soll hier nicht gefragt werden nach Differenz zwischen Luftwaffe und SS. Worum es mir geht, ist, dass beide offenbar etwas "reparieren" wollten, etwas wiedergutmachen: Der eine die anständige deutsche Bürgerlichkeit, der andere sein Leben als junger Mann. Beide haben dabei viel Überzeugendes geleistet, und Fehler gemacht. Wir haben paradoxerweise von ihrem Überzeugenden wie von ihren Fehlern profitiert, von den Lebensläufen, die sich nicht auf Flaschen ziehen ließen.

Gunter Hofmann, Jahrgang 1942, Dr. phil., seit 1977 bei der Wochenzeitung "Die ZEIT", seit 1994 Büroleiter in Bonn, seit dem Regierungsumzug in Berlin, einer der angesehensten Beobachter des deutschen Politikbetriebs, jüngste Buchveröffentlichung: "Abschiede, Anfänge. Die Bundesrepublik. Eine Anatomie."
Der Schriftsteller Günter Grass
Der Schriftsteller Günter Grass© AP