Lebenshilfe von Menschenfressern

Wie lebten die Menschen in der Steinzeit? Dieser Frage ist die Schweizer Philosophieprofessorin Karen Gloy nachgegangen. Dazu reiste sie in den Urwald Papua-Neuguineas und besuchte unbekannte Indianerstämme, die noch nie Kontakt mit Fremden hatten.
"Die westliche Wissenschaft ist ausschließlich auf Quantifizierung (…) angelegt, nicht auf Qualität. Die Wirtschaft folgt dem Prinzip der strategischen Vernunft, nicht dem der Werterationalität, um Ausdrücke Max Webers zu gebrauchen."

Wie lebten die Menschen in der Steinzeit? Dieser Frage ist die Schweizer Philosophieprofessorin Karen Gloy nachgegangen. Dazu reiste sie mehrmals, zuletzt 2008/2009 in den Urwald Papua-Neuguineas und besuchte unbekannte Indianerstämme wie die Kombai, die letzten Baumhausnomaden, die noch nie Kontakt mit Fremden hatten; Vorfahren bekannter Eingeborenen-Stämme Papua-Neuguineas schlugen ihren Feinden die Köpfe ab, um sie dann zu mumifizieren, - die sogenannten Schrumpfköpfe, die man in völkerkundlichen Museen betrachten kann.

Karen Gloys Sachbuch "Unter Kannibalen - Eine Philosophin im Urwald von Westpapua" beruht auf den Erfahrungen ihrer letzten Reise zu den Kombai-Nomaden. Im ersten Teil erwartet den Leser ein pittoresker, rein reportierender Reisebericht.

Im Mittelteil bietet das Buch einen medizinisch-psychologischen und soziologischen Vergleich zwischen Steinzeitkultur und moderner westlicher Gesellschaft anhand des Parameters "Stress" beziehungsweise der Grundfrage, inwieweit steinzeitmenschliches Verhextsein und modernes Burn-out-Syndrom identisch sind. In dem Kapitel "Verhexung und ihre moderne Schwester, das Burn-out-Syndrom" schildert Karen Gloy, dass die Kombai-Indianer im Dschungel Papuas kein "Ich-bin-ausgebrannt-Syndrom" kennen; fühlen sie sich schlecht, dann hat sie jemand verhext. Der Steinzeitmensch also, so Gloy, sucht vernünftigerweise nach einer Ursache, der moderne Mensch nicht, er gibt sich selbst die Schuld, er fühlt sich ausgebrannt, statt zu sagen, meine Firma, meine Gesellschaft ist ausgebrannt.

Im essayistischen dritten Teil bettet Karen Gloy ihre Ergebnisse in die Ideen- beziehungsweise Philosophiegeschichte vom Alten Testament bis zu Max Weber ein und entwickelt politische Schlussfolgerungen und Forderungen. Warum nicht, so die Autorin, das solidargemeinschaftliche Denken, die Ethik und das Verantwortungsgefühl der Steinzeitnomaden Westpapuas auf unsere moderne Pay-back-Punkte-Gesellschaft übertragen? Das hieße, dass die Bankmanager, die sich persönlich bereichert haben, für die Schäden mit ihrem Privatvermögen haften müssten, - oder wenigstens, wie bei den Kombai-Indianern, als Strafe für ihren "bösen Zauber" Exkremente essen müssten.

Der Titel "Unter Kannibalen" erweist sich als erfolgreicher Trick der Autorin, den Leser zu fesseln, - mit den Fallstricken seiner vorgefassten Vorstellungen. Für Karen Gloy erweist sich der "westlicher Turbokapitalismus" als die wahre kannibalistische Gesellschaft, die ihre eigenen Kindern auffrisst.

Aber erst im letzten Teil des Buches begreift man endgültig, mit wie viel Ironie dieses Buch angelegt worden ist, - und warum es zu einer spannenden Lektüre-Lawine wird, die einen in den Bann schlägt, auch oder gerade weil es auf den 128 Seiten, gewollt oder nicht gewollt, manchmal thematisch arg hart die Kurve nimmt, - von den ganzen Labormäusen und den eichhörnchenähnlichen Tupajas ganz zu schweigen. Wie auch immer, man bereut es nicht einen Moment, "Unter Kannibalen - Eine Philosophin im Urwald von Westpapua" gelesen zu haben.

Besprochen von Lutz Bunk

Karen Gloy: Unter Kannibalen - Eine Philosophin im Urwald von Westpapua
Primus Verlag, Darmstadt 2010
128 Seiten, 19.95 Euro