Lebendige Kunstszene

Von Natascha Freundel |
Tel Aviv, vor fast 100 Jahren gegründet, gilt als das säkulare und kulturelle Zentrum Israels. Dass Tel Aviv eine sehr lebendige Kunstszene hat, ist weniger bekannt. Das will die erste Art Tel Aviv nun ändern. Sie lädt das internationale Kunstpublikum noch bis Mitte Oktober auf eine Entdeckungsreise durch die Museen und Ateliers der Stadt ein.
Die Preview-Woche der Art Tel Aviv begann in Jerusalem. Dort findet alle drei bis vier Jahre eine Kunstschau namens Art Focus statt. Diesmal wurden in abgelegenen Industriehallen vor allem Videos gezeigt: Aus Lautsprechern begrüßt von der UN-Abstimmung über die Teilung Palästinas 1947 kann sich der Besucher hier unter anderem in Chris Markers phänomenalen Israel-Dokufilm "Beschreibung eines Kampfes" von 1960 vertiefen. Oder - in Nira Peregs Videoloop "Schabbat 2008" - beobachten, wie die ultraorthodoxen Einwohner Jerusalems ihre Stadtviertel an Freitagabenden abriegeln.

Nach der Eröffnung der Art Focus fuhren die Künstler, Kuratoren, Kulturmanager wieder zurück nach Hause, nach Tel Aviv.

"Tel Aviv ist die israelische Stadt am Mittelmeer. Dazu muss man sagen, dass Tel Aviv seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eigentlich die Kunststadt war. Die künstlerische Aktivität hatte zuerst in Jerusalem angefangen, und als Tel Aviv sich anfing zu entwickeln, Anfang der 20er Jahre, da wurde sie - und ist es bis heute geblieben - das Zentrum für das Land, auf jeden Fall."

Der ehemalige Direktor des Tel Aviv Museums of Art und auch des Museums Ludwig in Köln, Marc Scheps. Bis vor wenigen Jahren, erzählt er, zeigten israelische Galerien fast nur israelische Kunst. Jetzt öffnet man sich mehr und mehr der Welt.

"Was mich gerade an diesen Ereignissen, die hier stattgefunden haben, interessiert, ist, dass - der Versuch wird jetzt gemacht, und es ist auch der richtige Moment dafür - dass die israelischen Künstler zusammen mit den internationalen Künstlern gezeigt werden. Also, nicht in ihrer Isolation und in ihrer Sonderheit, sondern gerade im Sinne, im Klang mit der internationalen Szene, wie sie da hineinpassen."

Happening, Hausbegehung und Stadterkundung boten die Preview-Tage der Art Tel Aviv. Die Idee stammt von lokalen Galeristen zusammen mit dem Londoner Kurator vom Goldsmith College, Andrew Renton:

"Tel Aviv ist außerordentlich! Ein unglaublicher Ort, sehr komplex und widersprüchlich. Und ich habe den Eindruck, die Stadt ist reif. Sie ist 99 Jahre alt und im wahrsten Sinne des Wortes 'modern'. Architektonisch beruht sie auf modernistischen Prinzipien. Ideologisch gründet sie auf dem Traum, eine Stadt an genau dieser Stelle zu bauen, mit allen damit verbundenen Problemen. Als wahrhaft moderne Stadt findet sie in der Kunst einen enormen Resonanzraum, den wir nutzen oder wahrnehmen wollen."

Die Biennalen der Mittelmeerstädte Athen und Istanbul sind Vorbild für die Art Tel Aviv. Zugleich wird Anlauf genommen für die Hundertjahrfeier ab nächsten April mit einem hochkarätig besetzten Architektursymposium und noch mehr Kunstausstellungen. Anders als im Moloch Istanbul, wo sich die Biennalebesucher regelmäßig auf dem Weg zur einen oder anderen Kunstschau verlaufen, konzentriert sich Art Tel Aviv auf drei, vier in Spaziergangsnähe gelegene Orte.

"Es ist eine praktische, keine spirituelle Tour. Sie beginnt an einem Ende des Rothschild Boulevards mit einer Ausstellung im Helena Rubinstein Pavillon, einem der besten Ausstellungsorte Israels. Dann geht es den grandiosen Boulevard entlang bis zum anderen Ende, wo sich linkerhand diese ungewöhnliche Marktzone befindet, Nachlat Binyamin. Hier gibt es eine Reihe von Kunstprojekten, entwickelt nach dem Motto: Künstler kuratieren Künstler."
"Time is out of Joint", die Zeit ist aus den Fugen, so heißt eine Station im Stoffhandel-Viertel rund um Nachlat Binyamin. Hier stehen pittoreske, so genannte eklektizistische - orientalisch-osteuropäische - Bauten aus den 1920er Jahren, viele arg angenagt vom Zahn der Zeit. Jetzt kann man hinter diese märchenhaften Kulissen schauen.

Da rattert etwa im Flur eine skurrile Eisenuhr, die den Torbogen von Auschwitz zitiert und in der ein Kippfigurhase, der auch eine Ente sein kann, im Kreis läuft. Gleich nebenan erinnern ein Fenstergitter und ein funktionsloses Treppenhausstück an den Wittgenstein-Freund und Adolf Loos-Schüler Paul Engelmann, der 1964 nahezu unbekannt in Tel Aviv starb.

Ihm zu Gedenken haben der Künstler Doron Rabina, der Philosoph Nimrod Matan und der Architekt Shmuel Ben Shalom auch einen kostenlosen Friseursalon für Immigranten eingerichtet. Im internationalen Kunstdialog besinnt sich Tel Aviv mit einem Mal auf seine vielen spannenden Stadtgeschichten von gestern und heute.