Lebendige Klassiker

Von Ulrike Gondorf |
Klassiker gehen im Theater immer. Aktueller Regiestar plus gut abgelagerter Text, das ist die Erfolgsformel im deutschen Theater. Schließlich haben die Klassiker immer noch ein Riesenpotenzial und gelungenen Inszenierungen gelingt es, dieses freizulegen und die richtigen Fragen zu stellen.
Shakespeare, Brecht, Schiller, Molière,- das sind die üblichen Verdächtigen, wenn die ersten Plätze in der Statistik der meistgespielten Bühnenautoren zu vergeben sind. Gibt es ein rundes Gedenkjahr oder eine Leseempfehlung im Abiturplan, kann mal Lessing aufholen, mal vielleicht Gerhart Hauptmann. Vor allem, wenn ein prestigeträchtiger Platz zu besetzen ist, etwa die Eröffnung einer Spielzeit oder gar die Eröffnung einer Intendanz, sind sie oft erste Wahl. Die "Klassiker" eben.

Und wenn eine Theateraufführung mal hohe Wellen schlägt, vor allem Wellen der Empörung, dann geht es meist auch um ein Stück aus längst vergangenen Zeiten. Und seine als zu modern empfundene Interpretation.

Klassiker - Schwergewichte, Flaggschiffe, Prüfsteine des Repertoires? Dass eine Klassiker-Aufführung besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, dafür gibt es vielfältige Indizien. Aktueller Regiestar plus gut abgelagerter Text: Das scheint die ultimative Erfolgskombination des deutschen Theaters zu sein. Die Kritikerumfrage der Zeitschrift "Theater Heute" etwa sieht 2007 zwei der frühesten überlieferten Texte und den 2500 Jahre alten Aischylos an der Spitze: "Die Perser", inszeniert von Dimiter Gottscheff, und die "Orestie" in der zugespitzten Version von Michael Thalheimer.

Die Zuschauer lieben die Klassiker ebenfalls. Und so könnte in dem reichen Fundus großartiger Geschichten und Ideen, die Shakespeare, Schiller und die anderen bereitstellen, eine sichere Grundlage stabiler Beziehungen zwischen dem Theater und seinem Publikum bestehen.

Das Gegenteil ist der Fall: Klassiker polarisieren, Klassiker sind skandalträchtig, Klassiker sorgen für Aufregung. Wunderbar, sie sind lebendig. Sie bedienen nicht die mit Respekt verwechselte Bequemlichkeit derjenigen, die vom Theater einen sicheren Abstand vom Leben, keine unanständigen Wörter und schöne Kostüme fordern. Sie ergreifen Verstand und Gefühl, sie rücken uns gefährlich nah, sie konfrontieren uns mit unseren eigenen Fragen: privaten wie politischen. Wenn ihnen jemand diese Fragen stellt.

In diesem Potential liegt die dauernde Herausforderung für Theaterleute. Für die Schauspieler, die hier Figuren finden, so lebendig, so komplex, so widersprüchlich, dass die Beschäftigung mit ihnen immer neue Facetten freilegt. Klassische Rollen sind zum Inbegriff großer Schauspieler geworden, selbst wenn sie längst Geschichte sind: Kainz als Hamlet, Gründgens als Mephisto, Wildgruber als Othello - wer das nie gesehen hat, verbindet doch eine Vorstellung damit. Und bis heute ist der "Durchbruch" eines Schauspielers meist eine klassische Hauptrolle.

Das gilt entsprechend für die Regisseure, die mit Klassikern von sich reden machen, Empörung und Begeisterung, im besten Fall lebendige Auseinandersetzung provozieren. Viele Wege führen dahin, wenn sie nur entschieden eingeschlagen werden. Jürgen Gosch, der mit seinem Düsseldorfer "Macbeth" die am heftigsten umstrittene und am meisten gefeierte Klassikeraufführung der letzten Jahre inszeniert hat, legte schonungslos die Triebkräfte eines Machtspiels frei, zog die Figuren aus bis auf die nackte Haut, und die Brutalität und Gewalt dieses düsteren Stücks wurde schockierend gegenwärtig. Der Abend traf den Zuschauer in die Eingeweide.

Andere Ansätze versuchen ihn eher vom Kopf her zu bewegen: Michael Thalheimer etwa mit seinen radikal reduzierten Inszenierungen, die ein scharf umgrenztes, aber helles Schlaglicht werfen auf einen einzelnen Aspekt aus der Themenfülle eines Klassikers.

Dass auch die jüngste Generation der Regisseure sich unvermindert herausgefordert fühlt von den Klassikern, beweist in Essen der noch nicht 30-jährige David Bösch mit einer bemerkenswerten Serie von Inszenierungen. Seine jüngste Arbeit interpretiert Büchners "Woyzeck" in Bildern, die das Stück ganz nah an gegenwärtige Bildwelten heranholen, ohne es zu nivellieren durch vordergründige Aktualisierung.

Gelungene Arbeiten wie diese geben sicher kein Patentrezept für den Erfolg, aber sie zeigen im Umkehrschluss noch einmal, wie es auf jeden Fall nicht geht (und doch im Alltag der Theater immer wieder um sich greift): wohltemperiert, unentschieden, ohne bohrende Fragen, ohne den Mut zu extremen Gefühlen und radikalen Ideen.