Leben wie im Comic

20.10.2008
Das Leben eines Durchschnittsmenschen erzählt Thomas von Steinaecker in seinem Roman "Geister". Ein Durchschnittsmensch allerdings, der mit einer ausgesprochenen Wirklichkeitsschwäche geschlagen ist. Dazu passt, dass die Begegnung mit einer Comic-Zeichnerin dazu führt, dass Realität und Fiktion sich immer stärker vermischen.
Sein Debüt "Wallner beginnt zu fliegen" war eine starke Talentprobe. Thomas von Steinaecker bürstete darin das Genre des Familienromans gegen den Strich, indem er nicht die Vergangenheit zu Ehren brachte, sondern die Geschichte ein halbes Jahrhundert weit in die Zukunft hineinerzählte - eine Zukunft allerdings, die der Gegenwart desillusionierend ähnlich sah.

Jürgen, die Hauptfigur von Steinaeckers zweitem Roman "Geister", macht den Schnellvorlauf in die Zukunft zur Psychotechnik. In Situationen der Überforderung gelingt es ihm leicht, sich wegzubeamen aus der unbekömmlichen Gegenwart. Mit einem Anflug Musilschen Möglichkeitssinns entwirft er eigene Lebensläufe - seine Biografie ist ihm eine Art Luftgitarre.

Dass Jürgens Verhältnis zur Realität brüchig ist, dass sich ihm die Unterscheidung von Sein und Schein so schnell auflöst und er zu spontanen Fluchten in die Musik des Imaginären neigt, hat mehrere Gründe. Zum einen ist es der exzessive heutige Mediengenuss - Film, Internet, Comic -, der offenbar zur Wirklichkeitsschwäche beiträgt. Eine nicht gerade neue und in manchem fragwürdige Hypothese.

Zum anderen aber hat sich die Unwirklichkeit im Leben von Jürgens Familie eingenistet, seit seine ältere Schwester Ulrike im Alter von sechs Jahren spurlos verschwand. Vermutlich fiel sie einem unaufgeklärten Gewaltverbrechen zum Opfer. Obwohl Jürgen die Schwester nie erlebt hat, ist sein eigenes Leben von dem Schicksalsschlag überschattet. Nie ist der Fall kriminaltechnisch abgeschlossen, nie wird die Hoffnung auf eine Wiederkehr der Verlorenen von den traumatisierten Eltern aufgegeben.

Der Ulrike-Geist spukt in Jürgens Leben, mehr noch - die irreale Schwester muss ihm oft wirklicher erscheinen als er selbst. Schon bei seiner Geburt rückt ein Fernsehteam an, um den Neuanfang der heimgesuchten Familie zu dokumentieren. Auch später wird der Fall noch mehrfach medial aufgerollt, und so wundert es vielleicht nicht, dass Jürgens Verhältnis zum eigenen Leben bald dem eines Soap-Darstellers zu seiner Rolle ähnelt.

Thomas von Steinaecker hat den Mut, einen geradezu penetrant durchschnittlichen Menschen zur Hauptfigur zu machen. Als Teenager liest Jürgen Stephen King und hört zur psychischen Stabilisierung bevorzugt Heavy-Metal-Musik. Dann schnurrt die Lebensspule heftig voran, und wir erleben ihn als halbwegs gesettelten Mann. Nun sind nicht mehr harte Riffs, sondern esoterische Sphärenklänge seine Sache. Denn Jürgen ist Physiotherapeut geworden, er arbeitet in süddeutschen Wellness-Centern, seine Frau heißt Monika, er ist Vater einer kleinen Tochter.

Das ganz gewöhnliche Ehedrama lässt auch nicht lange auf sich warten - Monika verlässt Jürgen zugunsten eines entschlussfreudigeren Arbeitskollegen. Fortan ist Jürgen der typische geschiedene Mann, der mehr schlecht als recht zurechtzukommen sucht mit seiner fragmentierten Normalbiografie. Er macht sich mittelkluge Gedanken über das Leben, sieht viel fern - besonders spannend ist das nicht.

Dann tritt Cordula Maas in sein Leben. Jürgen erfährt, dass die Berliner Comic-Zeichnerin, angeregt durch eine Fernsehreportage über die Familie, seit Jahren das imaginäre Leben Ulrikes im Bilde weiterführt:

"Ich habe mir das Leben Ihrer Schwester geborgt."

Die Ute-Comics haben längst viele Fans, und neuerdings taucht auch ein Physiotherapeut namens Jürgen in ihnen auf. Der reale Jürgen wird selbst bald süchtig nach den kleinen Bildgeschichten, sein Leben kreist um die jeweils nächste Lieferung. Bisweilen kommt es ihm gar so vor, als würde er sich in eine Comic-Figur verwandeln. Seine alles andere als festgezurrte Identität zeigt ein weiteres Mal erhebliche Auflösungserscheinungen - durchaus lustvoller Art.

Der Realitätsverlust in der medialen Welt ist spätestens seit Don Quijote ein zentrales Thema der Literatur. Steinaecker bietet eine mit moderner Medientheorie behutsam unterfütterte Variante. Jürgens Ritterromane sind die Ute-Comics; im letzten der Reihe erscheint er als eine Art Wellness-Supermann ("Jürgenman"), während ironischerweise alles zerbrochen ist, was seinem "realen" Leben zuletzt noch Wert geben konnte: der Kontakt mit der Zeichnerin, der sich zur verunglückten Affäre ausgewachsen hat, und das Verhältnis zur Tochter Clara, deren Einzug er wegen seiner Comic-Sucht vermasselte.

"Geister" ist ein Buch voller Anspielungen und Zitate. Märchen und Filme steuern Muster und Erzähl-Module bei. Steinaeckers Idee, einen Roman mit den Comics von Daniela Kohl zu kombinieren und dem Ganzen dann durch eine real existierende Website noch eine weitere Ebene einzuziehen, dürfte aber eigentlich niemandem spektakulär erscheinen, der mit gezeichneten Heftchen groß wurde und seit längerem das Internet benutzt. Die Ute-Comics mit ihren klaren Konturen und ihrer zart leuchtenden Farbgebung sind reizvoll; aber als besonders ausgebufftes Spiegel-Spiel mit diversen Medienformen wäre dieser Roman überschätzt.

Sein eigentlicher Reiz ist nach wie vor literarischer Art. Es ist die subkutane Intelligenz in der Beschreibung eines nicht besonders schlau wirkenden Durchschnittsmenschen, es ist die Darstellung jener kleinen Momente der Entwirklichung, für die Thomas von Steinaecker ein besonderes Sensorium hat. Nicht Jürgen, sondern wie von Jürgen erzählt wird - das ist das Interessante an diesem Buch.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Thomas von Steinaecker: Geister
Roman. Mit Zeichnungen von Daniela Kohl
Frankfurter Verlagsanstalt 2008
204 Seiten, 19,80 Euro