Leben - was sonst?
Peter Radtke, Jahrgang 1943, hat seit seiner Geburt die so genannte Glasknochenkrankheit, eine Störung des Knochenwachstums. Heute ist Radtke Mitglied im Nationalen Ethikrat, schreibt Aufsätze, Theaterstücke und Hörspiele und ist als Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Immer ärgerte ihn das vermeintliche Kompliment, er würde seinem Schicksal mit so viel Mut begegnen: Für ihn ist es selbstverständlich, aus seinem Leben was zu machen.
"Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden." Selbstsicher klingt der Titel des neuen Buches von Peter Radtke, das Aufsätze und Vorträge der vergangenen Jahre versammelt. Die Palette der essayistisch erkundeten Themen reicht von der Pränataldiagnose über die Sterbehilfe bis hin zur Sprache und Religion. Doch der Eindruck der Selbstsicherheit relativiert sich nach wenigen Seiten: Der Lebenssinn, den Radtke im schlichten Leben des Lebens findet, ist so etwas wie die letzte Zuflucht vor anderen Daseinsberechtigungen, die unsere Gesellschaft ihren behinderten Menschen verordnet. Er habe sich immer an dem vermeintlichen Kompliment gestört, so Radtke gleich zu Beginn, er würde seinem Schicksal mit so viel Mut begegnen.
Peter Radtke kam mit der Glasknochenkrankheit zur Welt - zahllose Knochenbrüche, starke körperliche Beeinträchtigungen waren die Folge. Heute ist er als Ethik-Experte, Buchautor und Schauspieler landesweit bekannt. Doch das hat mit Mut nichts zu tun, stellt Radtke klar: Was, bitte schön, sollte man mit seinem Leben anderes tun, als es zu leben?
Nüchtern ist Radtkes Blick: Behinderte Menschen seien nicht dazu da, der übrigen Gesellschaft besonderen Mut oder das kleine Daseinsglück abseits der Leistungsgesellschaft vorzuführen. Radtke will auch nicht als behinderter Super-Experte für das Existenzielle auftreten. Wenn er über unseren Sprachgebrauch nachdenkt, über die Fallstricke der pränatalen Diagnostik, den Begriff der Normalität oder die gefährliche Nähe der "Kostensenkung im Gesundheitswesen" zum "unnützen Esser" im Nationalsozialismus, tastet er sich durch schwieriges Terrain, erkundet Argumentationen, verstrickt sich - wie er zugibt - bisweilen in Widersprüchen und will genau das: vielschichtig sein, simple Ratschläge verweigern.
Die Bemühungen um eine politische korrekte Sprache etwa: Was bringt es, fragt Radtke, wenn wir statt vom "Krüppel" vom "Menschen mit Down-Syndrom" sprechen - und doch weiterhin einen defizitären Menschen meinen? Warum gibt es keine wirklich positiven Begriffe - "spontan handelnder", "unverbildeter", "gefühlsorientierter Mensch"? Auch das "Down-Syndrom" wird, prophezeit der Autor, eines Tages der Ächtung anheim fallen, wenn es so diskriminierend klingt, wie es heimlich schon heute gemeint ist. Typisch für Radtke, dass er sich gleich wieder zurücknimmt und eingesteht: Als Krüppel - wie viele Mitstreiter - mag er sich nicht bezeichnen. Er kann nicht mal genau erklären warum - zu schmerzhaft ist ihm das Wort.
Immer wirft der Autor persönliche Erfahrungen ein, obgleich sein verhaltener Stil spüren lässt, dass Enthüllungen seine Sache nicht sind. Doch Radtke fühlt sich verpflichtet, in den nichtbehinderten Teil der Gesellschaft hinein zu kommunizieren. Für Solidarität plädiert er - und baut von seiner Seite aus die Brücke.
Wo wir uns - unter dem unverfänglich erscheinenden Stichwort "Patientenverfügung" - sanft an den Gedanken gewöhnen, bei schwerer Krankheit schnell in den Tod abzuwandern, setzt Radtke das Gewicht seiner Erfahrung dagegen: Ja, seine Kindheit war von Schmerzen und Knochenbrüchen gezeichnet. Dennoch war er ein ungemein glückliches Kind und seine Eltern waren glücklich mit ihm. Ja, jeder neue Knochenbruch, jede neue Einschränkung tut weh - aber er schöpft seine glücklichen Stunden, wie alle anderen auch, aus der Fülle seines Lebens.
Warum nun braucht unsere Gesellschaft behinderte Menschen? Radtke sagt: Weil ihr Leben deutlich macht, was der Kern des Menschen ist, wenn man ihn aller überflüssigen Attribute, aller körperlichen und intellektuellen Leistungsfähigkeit entkleidet. Eine gute Antwort? Zu sehr schmeckt sie nach dem Nützlichkeitsdenken, das der Autor kritisiert.
Im Schlusskapitel läuft Radtke zu seiner wahren Hochform auf, wenn er ablässt vom Erklären und Argumentieren. Es gebe nichts Besonderes an seiner Behinderung, ruft er in einem leidenschaftlichen, poetischen Monolog - außer dass sie ihm gehöre. Andere haben einen Porsche, eine Segeljacht - er sein Kainsmal. Ein wuchtiges Ende für ein starkes Buch.
Rezensiert von Susanne Billig
Peter Radtke: Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden. Warum unsere Gesellschaft behinderte Menschen braucht
Verlag Sankt Michaelsbund
190 Seiten. 12,90 EUR
Peter Radtke kam mit der Glasknochenkrankheit zur Welt - zahllose Knochenbrüche, starke körperliche Beeinträchtigungen waren die Folge. Heute ist er als Ethik-Experte, Buchautor und Schauspieler landesweit bekannt. Doch das hat mit Mut nichts zu tun, stellt Radtke klar: Was, bitte schön, sollte man mit seinem Leben anderes tun, als es zu leben?
Nüchtern ist Radtkes Blick: Behinderte Menschen seien nicht dazu da, der übrigen Gesellschaft besonderen Mut oder das kleine Daseinsglück abseits der Leistungsgesellschaft vorzuführen. Radtke will auch nicht als behinderter Super-Experte für das Existenzielle auftreten. Wenn er über unseren Sprachgebrauch nachdenkt, über die Fallstricke der pränatalen Diagnostik, den Begriff der Normalität oder die gefährliche Nähe der "Kostensenkung im Gesundheitswesen" zum "unnützen Esser" im Nationalsozialismus, tastet er sich durch schwieriges Terrain, erkundet Argumentationen, verstrickt sich - wie er zugibt - bisweilen in Widersprüchen und will genau das: vielschichtig sein, simple Ratschläge verweigern.
Die Bemühungen um eine politische korrekte Sprache etwa: Was bringt es, fragt Radtke, wenn wir statt vom "Krüppel" vom "Menschen mit Down-Syndrom" sprechen - und doch weiterhin einen defizitären Menschen meinen? Warum gibt es keine wirklich positiven Begriffe - "spontan handelnder", "unverbildeter", "gefühlsorientierter Mensch"? Auch das "Down-Syndrom" wird, prophezeit der Autor, eines Tages der Ächtung anheim fallen, wenn es so diskriminierend klingt, wie es heimlich schon heute gemeint ist. Typisch für Radtke, dass er sich gleich wieder zurücknimmt und eingesteht: Als Krüppel - wie viele Mitstreiter - mag er sich nicht bezeichnen. Er kann nicht mal genau erklären warum - zu schmerzhaft ist ihm das Wort.
Immer wirft der Autor persönliche Erfahrungen ein, obgleich sein verhaltener Stil spüren lässt, dass Enthüllungen seine Sache nicht sind. Doch Radtke fühlt sich verpflichtet, in den nichtbehinderten Teil der Gesellschaft hinein zu kommunizieren. Für Solidarität plädiert er - und baut von seiner Seite aus die Brücke.
Wo wir uns - unter dem unverfänglich erscheinenden Stichwort "Patientenverfügung" - sanft an den Gedanken gewöhnen, bei schwerer Krankheit schnell in den Tod abzuwandern, setzt Radtke das Gewicht seiner Erfahrung dagegen: Ja, seine Kindheit war von Schmerzen und Knochenbrüchen gezeichnet. Dennoch war er ein ungemein glückliches Kind und seine Eltern waren glücklich mit ihm. Ja, jeder neue Knochenbruch, jede neue Einschränkung tut weh - aber er schöpft seine glücklichen Stunden, wie alle anderen auch, aus der Fülle seines Lebens.
Warum nun braucht unsere Gesellschaft behinderte Menschen? Radtke sagt: Weil ihr Leben deutlich macht, was der Kern des Menschen ist, wenn man ihn aller überflüssigen Attribute, aller körperlichen und intellektuellen Leistungsfähigkeit entkleidet. Eine gute Antwort? Zu sehr schmeckt sie nach dem Nützlichkeitsdenken, das der Autor kritisiert.
Im Schlusskapitel läuft Radtke zu seiner wahren Hochform auf, wenn er ablässt vom Erklären und Argumentieren. Es gebe nichts Besonderes an seiner Behinderung, ruft er in einem leidenschaftlichen, poetischen Monolog - außer dass sie ihm gehöre. Andere haben einen Porsche, eine Segeljacht - er sein Kainsmal. Ein wuchtiges Ende für ein starkes Buch.
Rezensiert von Susanne Billig
Peter Radtke: Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden. Warum unsere Gesellschaft behinderte Menschen braucht
Verlag Sankt Michaelsbund
190 Seiten. 12,90 EUR