Leben unter Denkmalschutz

Von Nadine Dietrich · 11.12.2012
Die Hansestadt Lübeck feiert dieser Tage das 25. Jubiläum als Welterbe der UNESCO. Der Titel ist eine besondere Auszeichnung, aber auch eine Herausforderung für die Stadt - und ihre Bewohner.
Ralf Cummerow holt Teller und Tassen für das Abendbrot aus einem Hängeschrank in der Küche. Vermutlich war seine Küche über Jahrhunderte ein Kontor - und zwar von der Handwerkerfamilie, die das dreietagige Haus um 1600 in Lübeck bauen ließ. Hier Küchenschränke einzubauen, sei ein Kunststück gewesen, erzählt Ralf Cummerow:

"Da haben wir glücklicherweise Hilfe gehabt, weil es keinen einzigen geraden oder rechten Winkel gibt. Wenn man unter die Schränke guckt, dann sieht man, dass die von der Wand abstehen. Weil das alles wellig und krumm und schief ist, aber es ist sehr gemütlich."

Ralf Cummerow trägt das Geschirr in die 30 Quadratmeter große Diele und stellt es auf einen langen, breiten Esstisch. Hier war früher die Werkstatt der Handwerker. Der Fußboden ist deshalb mit robusten, quadratischen Backsteinen ausgelegt. Aber unter den 400 Jahre alten Steinen befindet sich eine Fußbodenheizung.

"Das Haus steht innen wie außen unter Denkmalschutz. Es ist sehr detailgenau saniert worden. Alle Räume sind unterschiedlich hoch, hier drei Meter, dann zwei Meter. Und obwohl es so ein altes Haus ist und zum Beispiel alle Räume auf verschiedenen Ebenen liegen, ist die Raumaufteilung prima, um es als modernes Haus zu bewohnen."

Ralf Cummerow geht die Treppe rauf ins erste Zwischengeschoss: auf das Zimmer im Seitenflügel ist er besonders stolz:

"Da muss man bisschen den Kopf einziehen, wenn man so gut 1,80 ist wie ich, kann man sich hier ordentlich Kopf stoßen. An der Stirnseite vom Raum sind alte Wandmalereien. An der Decke, an den Dielen und den Balken sind auch alte Malereien. Die sind bei der Sanierung aufgetaucht, davon wusste man gar nichts."

Rote und orangefarbenen Ornamente sind auf der hell, aber ungleichmäßig verputzen Wand zu erkennen, ebenso Überreste von mittelalterlichen Schriftzügen. An den Decken: Fragmente von roten geschwungenen Mustern, braun-schwarz-gestrichene Holzbalken. Hier Löcher in die Wände und Decken bohren? Das würde richtig Ärger mit dem Denkmalschutz geben. Und dann rutschen auch noch die Möbel immer Richtung Zimmermitte, weil die Böden so schief sind.

Die dreijährige Marthe hat Glasmurmeln geholt, sie weiß die schiefen Böden im ganzen Haus zu schätzen: Die perfekte Murmelbahn. Und auch Ralf Cummerow nimmt es gelassen, er kann dieser Eigenart seines Hauses sogar etwas Positives abgewinnen:

"Na, dass die Schiebetür vom Schlafzimmerschrank von alleine wieder zugeht."

Zur gleichen Zeit, nur wenige 100 Meter entfernt, hat Hannah Rau Feierabend. Sie geht die Glockengießerstaße im Zentrum Lübecks hoch. Hier stehen - wie in so vielen Straßen Lübecks - dicht an dicht Häuser mit verzierten Giebeln. Es ist selten, dass so viel der über Jahrhunderte gewachsenen Bebauung erhalten geblieben ist - ein Grund, warum die UNESCO heute vor genau 25 Jahren den mittelalterlichen Stadtkern Lübecks als Weltkulturerbe bezeichnete. Als erstes Stadtquartier Deutschlands, bis dahin wurden nur einzelne Baudenkmäler als Weltkulturerbe anerkannt.

"Jetzt kommen wir schon auf die Häuser zu. In dem wohnen wir. Es ist aber vom Gang aus zu betreten. Das ist eine Häuserfront mit vier Vorderhäusern, alle haben Treppengiebel."

Hannah Rau schließt ein Tor auf. Es führt in einen Gang, der hineingebaut wurde in das große Kaufmannshaus, in dem sie mit ihrem Mann und drei Töchtern eine Etage bewohnt. Hannah Rau läuft jetzt unter ihrem Wohnzimmer hindurch in den Innenhof - und der ist eng bebaut.

"Die kleinen Häuschen hier, die sind wie die Kaninchenställe in den großen Hof gebaut. Das wurde 1612 gebaut, das war mal ein Stift. Die Sterne sind ja heute wirklich großartig!"

Es wirkt hier fast dörflich: als wären winzige norddeutsche Bauernhäuser aneinandergereiht worden - mit tief heruntergezogenen Dächern, kleinen Fenstern und ebenerdigen Türen. 16 Quadratmeter Grundfläche haben die Wohnungen der sogenannten Gangbuden hier - An- und Umbau ist nicht erlaubt, der ganze Hof steht unter Denkmalschutz.

Hannah Rau will kurz bei einer Nachbarin vorbeischauen, die 84-jährige Rosa Stüwe ist seit ein paar Tagen krank.

"Hallo Frau Stüwe, ich bins Hanna …"

"Kommen Sie rein, Frau Rau …"

Hinter der Eingangstür ist ein kleiner Windfang, drei Schritte und schon stehen die beiden vorm Küchentisch, links geht eine Treppe ins Obergeschoss mit Bad und Schlafzimmer, rechts ist der Durchgang ins Wohnzimmer. Das ist die ganze Bude.

Stüwe: "Es ist gemütlich und schön, mitten in der Stadt, grün, schöner Terrassenplatz, ich hab ja auch den schönsten … Ich fühle mich hier sehr wohl, ich hab sehr nette Nachbarn."

Rau: "Ich kann mich noch erinnern, da hat Jette in der Mittagszeit Schlagzeug gespielt und Sie sprachen mich dann an, ich dachte Sie schimpfen, aber sie sagten nur: die wird immer besser! So ist das eigentlich grundsätzlich."

Dann reden die beiden Frauen über Arzttermine, über die Schneeglätte draußen und dass der Weihnachtsbaum im Hof dieses Jahr besonders schön sei.

Hannah Rau geht um die Gangbuden herum. Gartenbänke stehen unter den kleinen Fenstern auf der Rückseite, aus dem Schnee ragen vereinzelte Pflanzstöcke. Von den Gartenbänken aus sind es nur wenige Schritte bis zum Kaufmannshaus, in dem Familie Rau lebt.

"Wir sind hier wirklich nah aufeinander, das braucht viel Toleranz. Ein Nachbar hat Vögel, keine Ahnung, was das für eine Sorte ist, wenn man die den ganzen Sommer hört, dann wird man ganz .... Oder eine Nachbarin, die hatte ein Glockenspiel - das ging gar nicht, das nimmst du wieder rein! Das geht schon, man muss nur viel reden ..."

Und dazu noch die ganzen Touristen: Hof und Gang sind fester Bestandteil zahlreicher Lübeck-Stadtführungen. Bei Raus ist deshalb immer die Haustür und abends auch das Tor zum Gang verschlossen…

"Die Touristen rackeln an der Tür ... ganz viele sind ganz, ganz nett, manche möchten aber noch mehr hinter die Kulissen gucken, die kommen dann sehr nah! Wenn man im Welterbe wohnt, dann ist das halt so ... da geht’s raus ..."