Leben und sterben lassen
„Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch immer wieder etwas aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen, da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass. Wie sie da so sitzen, so trägt das Enkelchen auf der Erde kleine Brettlein zusammen. Was machst du da, fragte der Vater. Ich mache ein Tröglein, antwortete das Kind, daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“
Wenn man dieses Märchen der Brüder Grimm mit seinen unappetitlichen Details und dem fehlenden Happy End in sich nachklingen lässt, ist es durchaus dazu angetan, sich die Frage vorzulegen, wie sich unsere gegenwärtige Gesellschaft mit dem letzten Lebensabschnitt des Menschen und der langen, zu ihr hinführenden Etappe des Alterns auseinander setzt.
Wendet man sich vom Märchen ab und beispielsweise den vom hessischen Sozialministerium herausgegebenen „Seniorenblättern“ zu, ist deutlich erkennbar, dass der im Grimmschen Märchen auftretende, auf seine Kinder abstoßend wirkende Großvater nicht nur am heimischen Herd, sondern auch in dieser Publikation keinen Platz findet. Die kraftvollen, mitten im Leben stehenden Menschen, die sich hier abgelichtet finden und weniger die würdige Begleitung ihres baldigen Abschieds, als vielmehr die Ausdehnung ihrer Anwesenheit in der Welt einzuklagen scheinen, unterscheiden sich von der Generation der Kinder und Enkel eigentlich nur durch die Haarfarbe: schlohweiß und topfit. Die grassierende Illusion einer unbegrenzten Manipulierbarkeit der natürlichen Grenzen der menschlichen Existenz begünstigt neue Tabus: Es darf alles gezeigt, es darf über alles geredet werden, nur nicht über die Einsamkeit, die Erschöpfung, den körperlichen Verfall, den Tod: kurzum alle Zustände, in denen sich leise und unabwendbar die Endlichkeit des Menschen zu Wort meldet.
Sigmund Freud traf in seiner „Einführung in die Psychoanalyse“ die Feststellung, dass der Panzer des Narzissmus den Menschen davor bewahre, sich den eigenen Tod vorstellen zu müssen: Sterblich ist demnach immer nur der andere. 100 Jahre nach diesem Befund bleibt das Ableben dem Vorstellungsvermögen der Nachkriegsgeneration zwar entzogen, nicht aber die zu ihm hinführende, durch die Kriegsgeneration verkörperte Etappe. Die aus den Beiträgen zur Pflegeversicherung finanzierten Herbergen, in denen die Eltern auf den Tod warten, und die in die Jahre gekommenen Kinder als peinlich berührte Quartiermacher fungieren, sind keine Orte des Schreckens.
Sie heißen „Stift“, „Residenz“ oder „Seniorenhotel“, weisen auf Hochglanzprospekten wohlklingende französische Zusatztitel auf und liegen in der Regel weitab im Grünen hinter den sieben Bergen, was die Ausreden erleichtert und Anreise erschwert. In der Nähe der Rezeption des „Bellevue“ sitzen sechs hoch betagte Insassen beim Nachmittagstee und empfangen den Besucher mit hungrigen Augen, die sofort erlöschen, da es sich um keinen der herbeigesehnten Töchter und Söhne handelt. Dahinter öffnet sich ein lichtdurchflutetes Atrium, das offenbar für einen Kindergeburtstag hergerichtet ist. Die in den Wandelgängen zu kleinen Gruppen formierten Rollstuhlfahrer scheinen einander zugewandt in ein Gespräch vertieft, aber der Eindruck täuscht. Die Blicke sind leer und interesselos und schweifen in eine Ferne, die am Eingang zum Speisesaal endet. Die dornröschenhafte Erstarrung paart sich mit einer vollkommenen Stille, die durch das im Hintergrund plätschernde Anstaltsradio gemildert wird: Ganz Paris träumt von der Liebe, weiße Rosen aus Athen und Fred Bertelmann ist der lachende Vagabund. Robuste Pfleger mit osteuropäischem Akzent verkünden lautstark das Ende der Besuchszeit und ganz leise schließt sich die Tür hinter denen, die vor einer Ewigkeit als Erste in Liebe zu uns gesprochen haben.
Dieser traurige, im Selbstversuch gewonnene Eindruck von der Praxis der stationären Altenpflege steht in einem schwer erträglichen Kontrast zu den offiziellen Selbstdarstellungen des Pflegemarktes.
Wer im Umgang mit seinen sich aus dieser Welt verabschiedenden Angehörigen die Ahnung zulässt, dass sich die märchenhafte Vergangenheit von der strahlenden Gegenwart womöglich nur dadurch unterscheidet, dass die Schnabeltasse den Holzlöffel ersetzt, tut gut daran, sich der Verbringung in diese durch professionelle Routine und Lieblosigkeit gekennzeichneten Bewahranstalten durch die rechtzeitige Flucht zu entziehen.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u. a.: „Der Mann, der auf Frauen flog“, Hamburg 1988. Komm zurück, Schimmi!“, Hamburg 1992. „Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt“, Frankfurt/Main 2000.
Wendet man sich vom Märchen ab und beispielsweise den vom hessischen Sozialministerium herausgegebenen „Seniorenblättern“ zu, ist deutlich erkennbar, dass der im Grimmschen Märchen auftretende, auf seine Kinder abstoßend wirkende Großvater nicht nur am heimischen Herd, sondern auch in dieser Publikation keinen Platz findet. Die kraftvollen, mitten im Leben stehenden Menschen, die sich hier abgelichtet finden und weniger die würdige Begleitung ihres baldigen Abschieds, als vielmehr die Ausdehnung ihrer Anwesenheit in der Welt einzuklagen scheinen, unterscheiden sich von der Generation der Kinder und Enkel eigentlich nur durch die Haarfarbe: schlohweiß und topfit. Die grassierende Illusion einer unbegrenzten Manipulierbarkeit der natürlichen Grenzen der menschlichen Existenz begünstigt neue Tabus: Es darf alles gezeigt, es darf über alles geredet werden, nur nicht über die Einsamkeit, die Erschöpfung, den körperlichen Verfall, den Tod: kurzum alle Zustände, in denen sich leise und unabwendbar die Endlichkeit des Menschen zu Wort meldet.
Sigmund Freud traf in seiner „Einführung in die Psychoanalyse“ die Feststellung, dass der Panzer des Narzissmus den Menschen davor bewahre, sich den eigenen Tod vorstellen zu müssen: Sterblich ist demnach immer nur der andere. 100 Jahre nach diesem Befund bleibt das Ableben dem Vorstellungsvermögen der Nachkriegsgeneration zwar entzogen, nicht aber die zu ihm hinführende, durch die Kriegsgeneration verkörperte Etappe. Die aus den Beiträgen zur Pflegeversicherung finanzierten Herbergen, in denen die Eltern auf den Tod warten, und die in die Jahre gekommenen Kinder als peinlich berührte Quartiermacher fungieren, sind keine Orte des Schreckens.
Sie heißen „Stift“, „Residenz“ oder „Seniorenhotel“, weisen auf Hochglanzprospekten wohlklingende französische Zusatztitel auf und liegen in der Regel weitab im Grünen hinter den sieben Bergen, was die Ausreden erleichtert und Anreise erschwert. In der Nähe der Rezeption des „Bellevue“ sitzen sechs hoch betagte Insassen beim Nachmittagstee und empfangen den Besucher mit hungrigen Augen, die sofort erlöschen, da es sich um keinen der herbeigesehnten Töchter und Söhne handelt. Dahinter öffnet sich ein lichtdurchflutetes Atrium, das offenbar für einen Kindergeburtstag hergerichtet ist. Die in den Wandelgängen zu kleinen Gruppen formierten Rollstuhlfahrer scheinen einander zugewandt in ein Gespräch vertieft, aber der Eindruck täuscht. Die Blicke sind leer und interesselos und schweifen in eine Ferne, die am Eingang zum Speisesaal endet. Die dornröschenhafte Erstarrung paart sich mit einer vollkommenen Stille, die durch das im Hintergrund plätschernde Anstaltsradio gemildert wird: Ganz Paris träumt von der Liebe, weiße Rosen aus Athen und Fred Bertelmann ist der lachende Vagabund. Robuste Pfleger mit osteuropäischem Akzent verkünden lautstark das Ende der Besuchszeit und ganz leise schließt sich die Tür hinter denen, die vor einer Ewigkeit als Erste in Liebe zu uns gesprochen haben.
Dieser traurige, im Selbstversuch gewonnene Eindruck von der Praxis der stationären Altenpflege steht in einem schwer erträglichen Kontrast zu den offiziellen Selbstdarstellungen des Pflegemarktes.
Wer im Umgang mit seinen sich aus dieser Welt verabschiedenden Angehörigen die Ahnung zulässt, dass sich die märchenhafte Vergangenheit von der strahlenden Gegenwart womöglich nur dadurch unterscheidet, dass die Schnabeltasse den Holzlöffel ersetzt, tut gut daran, sich der Verbringung in diese durch professionelle Routine und Lieblosigkeit gekennzeichneten Bewahranstalten durch die rechtzeitige Flucht zu entziehen.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u. a.: „Der Mann, der auf Frauen flog“, Hamburg 1988. Komm zurück, Schimmi!“, Hamburg 1992. „Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt“, Frankfurt/Main 2000.