Leben und Schmerz einer Schriftstellerin

01.10.2013
Der zweite Band von Susan Sontags Tagebüchern entwirft das Bild einer mit sich zutiefst unversöhnten, glücksunfähigen Frau. In ihrem fast zwanghaften Ringen um schriftstellerische Größe sehnt sie sich zugleich nach erotischer Leichtigkeit - und handfester Sexualität.
Wovon die Tagebücher seiner Mutter Susan Sontag erzählen, wusste ihr Herausgeber David Rieff von Anfang an. "Wiedergeboren", schrieb er im Vorwort zu den frühen Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1963, handelten von "Schmerz und Ehrgeiz". Für die Aufzeichnungen der Jahre 1964 bis 1980 gilt das nicht weniger: Unter dem Titel "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke", erscheinen sie nun auf Deutsch. Wo der erste Band aber ausdrücklich die Selbsterschaffung einer Intellektuellen betrieb, da sieht man im zweiten einer ständig scheiternden Selbstergreifung zu.

Mit welch zitterndem Ernst schon die 15-Jährige die Welt der Literatur eroberte (und bald ihre Liebe zu Frauen entdeckte), war eine bewegende Lektüre. Mindestens so bewegend ist es zu verfolgen, wie unsicher sie selbst nach ihren ersten Erfolgen als Essayistin blieb. Susan Sontag, 1933 in New York City geboren und dort 2004 an Leukämie gestorben, war nur nach außen hin die strahlend selbstgewisse Diva, als die man sie spätestens 1966, nach der Aufsatzsammlung "Against Interpretation" (Kunst und Antikunst), an der amerikanischen Ostküste verehrte.

Sontag klagt über Kraft- und Konzentrationslosigkeit
Der zweite Band der Tagebücher, dem noch ein dritter folgen wird, entwirft das Bild einer mit sich zutiefst unversöhnten, glücksunfähigen Frau. Ständig klagt sie über Kraft- und Konzentrationslosigkeit und ermahnt sich zur Disziplin. In ihrem fast zwanghaften Ringen um schriftstellerische Größe sehnt sie sich zugleich nach erotischer Leichtigkeit - und handfester Körperlichkeit. Sexuell fühlt sie sich den Frauen, mit denen sie schläft, allerdings hoffnungslos unterlegen, und seelisch kommt sie ihnen nie wirklich nahe.

Auf die Trennung von der Dramatikerin María Irene Fornés folgt nicht nur die gescheiterte Beziehung mit der neapolitanischen Aristokratin Carlotta del Pezzo. Sontag berichtet hier von der schwersten Niederlage ihres Lebens. Doch die Verzweiflung bricht sich nur selten spontan Bahn. Wie sehr Sontag auch leidet, sie beobachtet sich aus der Distanz. Selbst im Intimsten bleibt der Ton sachlich. Alles Bekenntnishafte - darunter auch die zwischen Bewunderung und Konkurrenz schwankenden Beziehung zur Mutter - gerät ihr sofort zur psychoanalytischen Fallgeschichte. Geradezu unproblematisch erscheinen dagegen die Freundschaften mit Männern, etwa dem Maler Jasper Johns oder dem Dichter Joseph Brodsky.

Notizen einer bildungswütigen Arbeiterin
Auch im Philosophischen und Politischen - der Band enthält unter anderem Notate von einer Reise ins kommunistische Nordvietnam - herrscht Schmucklosigkeit. Die über 500 Seiten sind der Werkzeugkasten einer bildungswütigen Arbeiterin, die wusste, dass sie sich auf ihre Gründlichkeit, nicht aber auf ihr Genie verlassen konnte. Seitenlang listet sie Bücher und Filme auf. Das zuweilen Überkontrollierte verrät aber womöglich auch, warum sie nie die große Romanautorin wurde, zu der sie sich hier stilisiert.

Es gibt scharf Beobachtetes, pointiert Formuliertes, mit Fleiß Zusammengetragenes, aber auch jede Menge Banales. Diese ursprünglich nie für fremde Augen bestimmte Mischung macht aber auch ihren Reiz aus. Die Kultur der 60er- und 70er-Jahre ersteht eindrucksvoll wieder auf. Enttäuschend nur, dass die Namenserläuterungen so mager ausgefallen sind. Und fragwürdig, dass die editorische Praxis nirgends offen gelegt wird. Was und wie viel hat David Rieff weggelassen? Erst wenn man das wüsste, könnte man sagen, was Susan Sontag sich womöglich selber verheimlichte.

Besprochen von Gregor Dotzauer

Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke
Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum
Hanser Verlag, München 2013
560 Seiten, 27,90 Euro
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