Leben mit Livestream

"Wir werden selber ein Stück weit Technik"

Trauer am Unfallort
"Wir sind seit einigen Jahren restlos von der Idee fasziniert, dass die Welt uns zuschaut", sagt der Soziologe Dirk Baeker. © picture-alliance/ dpa / Peter Steffen
Dirk Baecker im Gespräch mit Timo Grampes · 12.05.2016
Zum ersten Mal hat ein Mensch seinen Suizid per Handy gefilmt und per Periscope-Technik gestreamt. Viele Menschen seien fasziniert von der Idee, dass die Welt ihnen zuschauen könne, sagt der Soziologe Dirk Baeker. Man müsse sich auf "üble Dinge" einstellen.
Eine junge Frau hat sich am Dienstag in Frankreich vor einen Zug geworfen und das Video mit Hilfe der Übertragungs-App Periscope live gestreamt. Schon in der Vergangenheit gab es Fälle, in denen Vergewaltigungen per Periscope live im Netz zu sehen waren.
Der Soziologe Dirk Baecker bezeichnete den jüngsten Fall im Deutschlandradio Kultur als erschütternden Missbrauch von Technik. Dazu komme ein weiterer, medienkritischer Aspekt:
"Wir sind seit einigen Jahren – seitdem wir mit Social Media umgehen - restlos von der Idee fasziniert, dass die Welt uns zuschaut. Wir waren bisher immer damit beschäftigt, der Welt dabei zuzuschauen, wie sie sich abspielt. Mal leidend, mal nicht leidend, mal glücklich, mal unglücklich. Jetzt können wir die Idee entwickeln, dass die Welt uns zuschaut. Und wir kommen auf die übelsten Ideen, um das auszunutzen."

Klare Trennung von Öffentlichem und Privatem ist "geplatzt"

Man müsse sich offenbar von bestimmten Illusionen der modernen Gesellschaft verabschieden, meinte Baecker. Die klare Trennung von Öffentlichem und Privatem sei "geplatzt":
"Und wir merken: Dass wir bisher auch schon – bis in das Privateste hinein, bis in die Idee des Rückzugs aus dem Öffentlichen – vom Öffentlichen geprägt sind. Jetzt ist die Vertaktung zwischen privaten und öffentlichen Aktionen extrem viel dichter, schneller und auch intensiver geworden. So dass wir glauben, die Unterscheidung hebt sich auf. Tatsächlich wird die Unterscheidung aber nur strapaziert."

Die Faszination der weltweiten Vernetzung

Seiner Einschätzung nach werde sich ein neues Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem entwickeln, meinte Baeker. Möglicherweise entstehe daraus auch ein anderes moralisches Verständnis:
"Ich behaupte allerdings auch, dass das den modernen Moralvorstellungen nicht sehr entsprechen wird. Weil die Faszination dieser weltweiten Vernetzung, gleichsam selber ein Stück weit Technik zu werden, einfach grenzenlos ist. Und das werden wir austesten. Und da werden wir uns auf üble und auch faszinierende Dinge einstellen müssen."
Mehr zum Thema