Leben mit einer brüchigen Identität

Ein Kosmopolit mit Sarajevoer Wurzeln ist die Hauptfigur des Romans "Die Archive der Nacht". Das Buch zeigt die Qual, mit einer brüchigen Identität zu leben. Der Text spannt weite Bögen - von einem europäischen Krieg zum nächsten und von der kleinen, persönlichen zur großen Geschichte.
In Sarajevo ist er 1977 zur Welt gekommen, in Jugoslawien. 15 Jahre später – der Staat war bereits Geschichte, die Stadt eben von serbischen Truppen eingekesselt – verließ er seinen Heimatort. Igor Štiks, der Kroate, wurde zum Kosmopoliten, und ein Kosmopolit mit Sarajevoer Wurzeln ist auch die Hauptfigur seines zweiten Romans "Die Archive der Nacht".

Richard Richter, ein gefeierter Schriftsteller, gerät mit 50 in die Midlife-Crisis. Er verlässt die Wahlheimat Paris und zieht zurück nach Wien. Hier kam er 1942 zur Welt, hier starben die Mutter (an den Folgen der Geburt) und Vater Richter (durch Selbstmord). Eine Tante hat das Waisenkind großgezogen. In der Wohnung der Tante, in einem versteckten Safe, entdeckt Richter junior nun Dokumente, die ihn erschüttern: Sein wahrer Vater war ein Jakob Schneider aus Sarajevo – Jude, Kommunist und jugoslawischer Agent in Wien.

1941 wurde er an die Gestapo verraten und deportiert. Doch vielleicht, denkt Richard Richter, hat Schneider überlebt? Im Frühjahr 1992 reist Richter als Kriegskorrespondent in das belagerte Sarajevo. Er begegnet einer späten großen Liebe, der Schauspielerin Alma.

Später findet er sogar den Vater – Jakob, der sich hier "Šnajder" schreibt – und macht eine Entdeckung, die ihn verzweifeln lässt: Alma, die wundersame Geliebte, ist Šnajders Tochter, mithin Richards Halbschwester. Fluchtartig verlässt Richter die Stadt. Er kehrt heim nach Wien, schreibt seine Geschichte nieder und erschießt sich. Ein Bekannter aus Sarajevo sichtet und kommentiert für uns das Manuskript ...

"Die Archive der Nacht" ist ein Buch über die Qual, mit einer brüchigen Identität zu leben, ein Bericht "über die zwei Geburten ein und desselben Menschen" (Štiks). Ein Buch der weiten Bögen – von einem europäischen Krieg zum nächsten und von der kleinen, persönlichen zur großen Geschichte. Ein Drama, in dem hehre Vorbilder anklingen, Topoi von mythischer Wucht (aus Ilias und Odyssee vor allem), die Irrfahrt auf der Suche nach Vater und Heim, der zufällige Inzest... Ein Buch, in dem viel nach Schuld und Sühne gefragt wird. Ein Roman ist dies, der die Leserschaft und ihre Gefühle spalten dürfte – hier Begeisterung, dort Skepsis, Ablehnung.

In Kroatien erhielt das Buch 2006 den bedeutendsten Literaturpreis. Eine dpa-Kritikerin nannte das Werk "eine gelungene Mischung aus Politthriller, Liebesgeschichte und Familientragödie". Andere Rezensenten sahen einen "meisterhaft komponierten Roman" oder gleich "die Geburt eines großen Epikers". Übersetzerin Marica Bodrožić lobte Štiks’ Mut, in Zeiten des "Sprachsäuberungswahns" auf dem Balkan verbotene "jugoslawische" Wörter zu nutzen. ("Leider konnte ich das nicht in die Übersetzung hinüberretten.") Das Opus sei "an allen Stellen atmosphärisch und sprachlich stimmig", schrieb Frau Bodrožić; der Autor verzichte "ganz und gar auf Klischees".

Schön wär’s. In Wirklichkeit, schade, ist das Werk ein einziges großes Klischee. Handlung und Personal wirken weit hergeholt, die Ingredienzien – der Krieg, die Schöne, der einsame Held – erinnern an Hollywood-Dramen. Die Konstruktion quietscht und klemmt, jedes Problemchen erfährt die ultimative dramatische Zuspitzung, aber ausgerechnet die Heimatstadt des Autors bleibt so blaß wie der Konflikt um diese Stadt. Es gibt schier unglaubliche Zufälle im Buch, zugleich regiert Schicksalsgöttin Klotho mit antikem Stoizismus. Auch die Geheimnistuerei hemmt die Leselust, das endlose Gewisper, Geraune, ehe die Geschichte in Gang kommt. Richter: "Was ich hier zu Papier bringe, ist wahrscheinlich nur so etwas wie ein Versuch, lückenlos alles festzuhalten, was die Grundfeste meines Lebens erschüttert hat. All die im Dunkel harrenden Entdeckungen ans Licht zu ziehen..." Besonders ärgerlich sind die Stilschwächen – verquere Satzgebilde, mißglückte Metaphern, Jargon. Wir erleben "das Lauern der blanken Wahrheit", das "eisige Wasser der Verschwiegenheit" und sehen Richter als "Meisterdetektiv vom Typ eines Ödipus". Daheim in Wien hat er "schicksalhafte Neuigkeiten" erfahren – eben dort, "wo sie sich wie die kalte, hoch aufragende Spitze eines Eisbergs ankündigten, dessen verborgener größerer Rest mich dann in Sarajevo erwarten sollte und in den ich mich mit einer Hast verbiß, als wollte ich fünfzig Jahre Lüge ausmerzen". Das tut weh. An einer Stelle notiert Richter alias Štiks ahnungsvoll: "Der Stoff ist bitter und wehrt sich, in einen Roman zu münden, bäumt sich auf gegen mich und das Handwerk ..."

Was macht das Buch dennoch lesenswert? Daß der Autor Stellung bezieht gegen den balkantypischen Nationalismus, gegen ethnisch begründeten Haß. Daß er uns an den Sündenfall der westlichen Zivilisation erinnert, einen verdrängten Sündenfall – wir haben die Zerstörung von Sarajevo zugelassen. Schlimmer noch: Wir waren als Voyeure dabei. "Leichenfledderer gab es bei Gott viel zu viele. Und dies waren nicht nur die Medienclowns im Gelände. Auch die Leser und Zuschauer gehörten dazu." An ein/zwei Stellen im Buch zeichnet Igor Štiks mit melancholischem Strich das schon Verlorene, seine versunkene Heimat – "Klein-Jerusalem", die Vielfalt in der Einheit eines einzigartigen Ortes. "In der Nachmittagssonne leuchtete der goldene Davidsstern auf dem fast vollständig mit Sandsäcken zugestellten Fenster. Nur ein paar Schritte weiter war die Beg-Moschee zu sehen. Jetzt fehlten nur noch die Kirchenglocken von Sarajevo ..."

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Igor Štiks: Die Archive der Nacht,
Roman. Aus dem Kroatischen von Marica Bodrožić. Claassen-Verlag, Berlin 2008, 379 Seiten, 19,90 Euro