Leben im Sterben

Von Barbara Felsmann und Manuela Schönberg · 29.07.2007
Kaum etwas bewegt uns Menschen so sehr wie der Tod. Und doch geschieht heute wenig so sehr im Verborgenen wie das Sterben. Herausgelöst aus dem Alltag und der Familie sind der Tod und das Sterben in unserer Gesellschaft tabuisiert. Dieses Tabu will die Hospizbewegung, die sich in Deutschland Anfang der 90er Jahre gegründet hat, brechen.
"Ja?" – "Guten Morgen! Sie warten schon." – "Ja." – "Ich wollte Ihnen ein bisschen beim Waschen helfen. Oder möchten Sie gerne zuerst frühstücken?" –"Ich weiß es nicht." – "Sie wissen es nicht."

Acht Uhr morgens. Annegret Stiller, Schwester Annegret, beginnt ihren Dienst. Im Lazarus-Hospiz im Berliner Wedding.

"Ich kann mir vorstellen, dass eine kleine Morgenwäsche gut tut, oder?"

Das Lazarus-Hospiz liegt mitten in der Hauptstadt, in der Bernauer Straße. Durch die geöffneten Fenster dringt Autolärm, Straßenbahnrattern, Kindergeschrei und Spatzenlärm. Schwester Annegret betreut vier Patienten. Schwester Annegret schaltet ihren Pieper an, schaut kurz bei ihren Patienten vorbei. Fragt sie, wie sie ihren Tag beginnen wollen. Harald Dombrowski will noch allein sein. Alfred Tiedtke aus Zimmer 310 möchte im Bett gewaschen und rasiert werden.

Schwester Annegret: "Ich hab einen Trockenrasierer gefunden. Können Sie Ihren Kopf ein bisschen drehen? Wenn ich Ihnen wehtue, protestieren Sie, okay?"

Alfred Tiedtke hat – wie alle 16 Patienten im Hospiz – ein Zimmer für sich allein. Es sieht aus wie ein Hotelzimmer. Gelbe Wände, helle Holzmöbel, ein rot gepolsterter Sessel, Fernseher, Telefon.

"Unsere Patienten dürfen auch ihre Lieblingsmöbel mitbringen", erzählt Schwester Annegret. "Nur auf das Krankenhausbett müssen wir bestehen. Wegen der Technik."

Alfred Tiedtke ist ohne eigene Möbel hier. Nur eingerahmte Fotos von der Familie und Pokale von seinem Rasseschäferhund. Das alles steht auf dem Fensterbrett gegenüber vom Bett. Alfred Tiedtke kann sie immer sehen, auch im Liegen. Nach der Morgentoilette gibt Schwester Annegret dem 70-Jährigen Tropfen gegen die heftigen Schmerzen, die der Krebs verursacht. Alfred Tiedtke setzt sich auf die Bettkante. Annegret stützt ihn. Seine gelbliche Haut wirkt wie Wachs. Alfred Tiedtke kann seinen Kopf kaum halten. Immer wieder sinkt der auf die Brust. Die Schwester stützt sein Kinn. Auf ihre Fragen antwortet Alfred Tiedtke erst nach langem Nachdenken. Stoßweise, fast röchelnd. Frühstück lehnt er ab. Er will nur etwas trinken. Einen Schluck zimmerwarmes Bier. Schwester Annegret reicht ihm das Glas an den Mund, danach in einem kleinen Becher die Schmerztropfen.

Schwester Annegret: "Noch ein Schluck Wasser zum Nachtrinken? Das machen Sie super."

Alfred Tiedtke stöhnt leise, legt seinen Kopf vertrauensvoll auf Annegrets Schulter. Wie ein kleines Kind braucht er Trost. Die Schwester streichelt sanft seinen Rücken:

"Wohin wandert die Hand, was brauchen Sie? Einfach nur mal kurz eine Hand? Okay."

Drei, vier fünf Minuten nimmt sich Annegret Zeit, um Alfred Tiedtkes Hand zu halten. Zeit, die sie eigentlich nicht hat. Den Pieper stellt sie auf leise, damit er Alfred Tiedtke nicht stört. Sie aber hört ihn. Weiß nun, dass ein anderer Patient auf sie wartet. Doch erst als Alfred Tiedtke sich beruhigt hinlegt, verlässt sie das Zimmer. Die Tür bleibt auf seinen Wunsch offen. Damit er sich nicht so allein fühlt.

Schwester Annegret schaut auf den Pieper. Nickt kurz und geht zum Patienten Ingo Schwartz. Den langen Flur entlang, an der Küche vorbei, bis ans andere Ende. Annegret erzählt. Ohne Punkt und Komma, ihre Augen erhalten Glanz.

"Wenn jemand zu uns kommt, ist ja praktisch eigentlich das Ziel erreicht, wenn jemand gestorben ist. So hart wie das jetzt einfach auch klingt, aber es geht ja einfach da drum, die Zeit bis dahin zu gestalten, mit den Angehörigen, mit Ehrenamtlichen, mit den Patienten zu gestalten. Und wie wahrhaftig und wie glaubhaft bin ich einfach da und wie nehme ich einfach den Patienten als ein erwachsenes Gegenüber überhaupt wahr. Wie setze ich diesen Anspruch ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar’ in meinem Alltag um."

Vor Zimmer 302 bleibt Schwester Annegret stehen. Hier liegt Ingo Schwartz. Ingo Schwartz kann nicht mehr aufstehen. Sein Krebs ist weit vorangeschritten.

"Seit Tagen schon nimmt er keine Speisen mehr zu sich", sagt Annegret, "seine einzige Freude ist das Rauchen. Und das darf er im Bett – unter Aufsicht."

Ingo Schwartz, 62, ist abgemagert bis auf die Knochen. Sein bleiches Gesicht, die spitze Nase, die eingefallenen Wangen machen ihn 20 Jahre älter. Schwester Annegret setzt sich an sein Bett, reicht ihm das Zigarettenetui. Der frühere LKW-Fahrer versucht, das Feuerzeug in Gang zu bringen. Nach drei Versuchen gibt er auf. Die Schwester zündet ihm die Zigarette an. Kraftlos pafft Ingo Schwartz vor sich hin.

"Rauchen auf Lunge – das war einmal", sagt er und fügt hinzu: "Wenn die Zigarette nicht mehr schmeckt, ist es vorbei."

Seine Stimme ist schwach, kaum hörbar. Seit vier Wochen ist er im Lazarus-Hospiz.

"Ist das Beste, was man haben konnte, hier. War schon in vielen Krankenhäusern und was weiß ich alles. War alles Schrott dagegen, was hier ist. Vom Feinsten, eine Bedienung wie im Hilton. Wenn ich das so vergleiche zu den anderen Häusern, oh Mann."

Sein Sohn und seine Schwester besuchen ihn nur selten. Dafür kommt regelmäßig eine ehrenamtliche Mitarbeiterin vom Hospiz zu ihm. Auf die freut er sich.

"Die erzählt Geschichten und was weiß ich alles. Die liest vor, wenn Sie wollen, lesen kann ich selber noch. Wir haben so gequatscht, so unterhalten. Wir haben alles durcherzählt, was soll man schon erzählen, gibt ja nicht allzu viel."

Schwester Annegret räumt den Aschenbecher weg, reicht Ingo Schwartz eine Schnabeltasse mit Kaffee. Dann verlässt sie sein Zimmer mit dem Versprechen, bald wieder "zum Rauchen" zu kommen. Im Schwesternzimmer erfährt Annegret, dass ein neuer Patient gebracht wurde: Klaus Heuer. Er sitzt im Rollstuhl und fährt durch den Flur. Sucht sein Zimmer. Schwester Annegret geht auf ihn zu, begrüßt ihn:

"Da Sie gerade hier hinten sind, dann zeig ich Ihnen die Räumlichkeiten auf Ihrem Weg zu Ihrem Apartment. Gucken Sie mal, hier haben wir nämlich schon mal ein Patientenbad, da kann man baden. Ich fahr Sie nur mal an den Rand, unser Bürotrakt, wenn Sie sich beschweren wollen. Gucken Sie mal und hier ist unser Schmuselbad, ja sag ich Ihnen, mit Whirlpool, mit Sternenhimmel, alles klar. Und jetzt zeige ich Ihnen, wo die 320 ist, das ist hier schon die 19 und das ist die 20."

Sie fährt ihn an einer Tür vorbei, die ins Freie führt. Dort befindet sich die Dachterrasse.

"Eine Oase von 100 Quadratmetern, mit einem wunderbaren Blick auf unseren Park",

meint die Pflegedienstleiterin Claudia Toporski. Sie wartet auf die Patientin Elisabeth Buchner. Vom Park schallt das Krähen eines Hahns bis hier hoch.

"Ja, wir haben dort eine Voliere mit zwei Hähnen, neun Hühnern und sechs Wellensittichen", sagt Claudia Toporski.

Die Dachterrasse ist der Treffpunkt für die Patienten. In Terrakotta-Gefäßen blühen Rosen. Wicken und Kapuzinerkresse winden sich an Eisengittern empor, gepolsterte Liegestühle stehen um den Springbrunnen, der leise plätschert. Eine weiße Pergola spendet Schatten. An mehreren Stellen sind Elektrokästen mit Steckdosen aufgebaut.

"Damit das Beatmungsgerät und der Sauerstoff-Konzentrator angeschlossen werden kann",

erklärt Pflegedienstleiterin Claudia Toporski.

"Ja, wir haben Patienten, die also nachts im Sommer hier auf der Terrasse unterm Sternenhimmel schlafen, für die das also sehr wichtig ist. Ich habe aber auch schon Patienten erlebt, die sich hier im Winter dick eingemummelt hier herausschieben lassen, um einfach den Wind noch mal um die Nase zu spüren. Es ist also eigentlich ein Geschenk, in einem Hospiz einen Garten oder eine Terrasse zu haben, weil das also wichtige Dinge werden, wenn der Zustand des Menschen reduziert ist. Dann hat das schon eine Bedeutung, den Himmel, den Wind, die Sonne, den Regen zu spüren."

Elisabeth Buchner kommt. Sie ist 60, die Haare ausgefallen von der Chemo. Elisabeth Buchner trägt ein enges, schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt, silberne Armreifen. Sie legt sich auf eine Liege am Springbrunnen. Claudia Toporski bringt eine Tasse Kaffee. Sie wollen allein sein und reden. Über die Zukunft. Über das Sterben.

Im Zimmer 320 führt Schwester Annegret währenddessen das Aufnahmegespräch mit Klaus Heuer:

"Brauchen Sie irgendetwas, damit der Tag für Sie besonders gut anfängt, als erstes erstmal einen Kaffee oder so?" –""Ein Kaffeemorgens ja, das ist das allererste". – "Sollen wir ihn gleich zum Aufwachen mitbringen?" – "Das wäre ja ganz nett. Naja, machen Sie mal zum Aufwachen, eine Tasse trink ich doch." – "Mit Milch?" – " Ohne Milch, nur ein halber Löffel Zucker." – "Okay."

Annegret fragt nach jedem Detail, schreibt die Antwort in ein Formular. Bei der Frage, ob Klaus Heuer kirchlich gebunden ist und das Gespräch mit einem Seelsorger wünscht, schluckt sie ein wenig:

"Kinder, ist das ein Schriftkram, nee, nee, nee."

Schwester Annegret fährt Klaus Heuer auf die Terrasse. Die Zeit bis zum Mittagessen will er an der frischen Luft sein. Braungebrannt, aufrecht und mit erhobenem Haupt sitzt er im Rollstuhl. Wirkt wie ein energischer Berufsschullehrer, der gerade in Pension geht. Tatsächlich ist Klaus Heuer 72, früher Techniker bei der Bewag:

"Bis ich dann hier eben vor drei Jahren, vier Jahren zusammengebrochen bin auf der Straße, auf der Fahrbahn. Ja, und dann kam ich nachher mit der Feuerwehr hier ins, wie heißt es, in die Charité. Und da haben sie mich gleich untersucht gehabt und dann haben sie dann festgestellt, dass ich vollkommen verkrebst bin. Ist alles. Na, was sollen Sie nun weiter sagen, ja."

Klaus Heuer spricht unbefangen über seine Krankheit, den Tod.

"Angst vor dem Sterben habe ich nicht", behauptet er.

"Nee, wissen Sie, jeder Mensch muss sterben, früher oder später. Und wenn man sich mit dem Gedanken befasst, also, ach, ist erledigt. Und das andere ist geregelt, die Sterbesache, das ist ja die Hauptsache, dass wir uns da einig beide sind. Sicher ist man gefühlsmäßig irgendwo, aber was soll’s, das kommt und geht."

"Beide" – das sind seine Frau und er. Irma Heuer begleitet ihren Mann ins Hospiz. Sie ist weniger gefasst als er. Sie kämpft gegen die Tränen an. Als sie den Kampf verliert, verlässt sie schnell das Hospiz. Klaus Heuer bleibt allein zurück.

"Vor zwei Jahren hatten wir Goldene Hochzeit", sagt er, "aber das ist Erinnerung. Ach ja, unsere Reisen, ach. Wir kennen die ganzen griechischen Inseln, wir waren auf Madeira, wir waren auf Mallorca, oh, wir haben viel gesehen, beide. Und die Bilder, die ich gemacht habe, sind alle in den Alben drin, und dann hat sie Erinnerungen, wer nun überlebt, nicht? Und wir sprechen sehr viel darüber, über die schönen Tage, die wir hatten. Aber für mich ist die Sache, ist alles erledigt soweit, ich habe mich damit abgefunden. Ich hoffe, dass es schnell geht und dass man da nicht lange leiden muss und deswegen haben wir auc eine Verlängerung und Erhaltung, na, wie sagt man, über Eingriffe abgelehnt, bei uns gibt es das nicht. Bei Beiden nicht."

Schwester Annegret wirtschaftet in der Küche. Kocht einen Tee, brät nebenbei Spiegeleier, räumt den Geschirrspüler aus und philosophiert über die Hospizbewegung.

"Punkt 1", sagt Annegret bestimmt, "wir treten dafür ein, dass Leiden und Sterben weder künstlich verlängert noch gezielt verkürzt werden. Punkt 2: Wir tun alles dafür, dass unsere Sterbenden nicht unter Schmerzen leiden müssen."

"Schmerz ist ein so zentrales Thema, das beherrscht einfach das Denken, das Fühlen, wenn das so im Mittelpunkt der Wahrnehmung ist, bin ich in allem beeinträchtigt. Dann bin ich einfach auch total reizbar, dann bin ich undankbar, dann bin ich nicht mehr nach außen zentriert, sondern wirklich nur noch nach innen. Und die andere Seite ist, wenn ich jetzt sozusagen den Schmerz ganz ausschalte, dann schalte ich ja auch eine Wahrnehmung ein Stückchen aus. Das heißt, wenn ich jetzt auf irgend etwas Hartem liege, spüre ich das auch nicht mehr. Und das ist so die Balance: Wann ist der Schmerz in einem Bereich, in dem er für mich erträglich ist und nicht mehr alles bindet, alle meine emotionale Kraft, aber wie ist er auch so, dass ich mich trotzdem noch wahrnehme?"

Schwester Susanne kommt dazu. Susanne Berkenhoff ist die Seelsorgerin vom Lazarus und schaut mehrmals am Tag im Hospiz vorbei. Jetzt will sie zu Elisabeth Buchner. Versuchen, ihr die Ängste zu nehmen. Vorher trinkt sie schnell einen Tee:

"Also, zum einen, denk ich, ist es gerade dann, wenn man von einer unheilbaren Krankheit erfährt, zuerst die Angst, eben verlassen zu sein. Abgeschoben zu sein und mit Schmerzen zugrunde gehen zu müssen. Also, so vor sich hinvegetieren und krepieren. Und ich denke, das ist eine Angst, die man eben wirklich gut nehmen kann, weil die Versorgung von sterbenden und todkranken Menschen ja wesentlich besser geworden ist. Und die zweite Angst: Tut das weh, das Sterben, und wie ist das, denke ich, ist so diese Angst vor etwas Unbekanntem. Was man noch nie erlebt hat. Was einem kein anderer auch erzählen kann, und es wird einmaligen Charakter haben, man kann es nicht zum zweiten Mal erleben."

Die Seelsorgerin betreut jeden, der es wünscht.

"Ich mache das nicht vom Taufschein abhängig", sagt sie. "Hilfe", ergänzt sie später, "brauchen vor allem die Angehörigen. Manchmal ist das sogar der intensivere Teil, gerade wenn die Patienten selber also komatös werden oder sind, und zunehmend eben abbauen und den Angehörigen fällt das ja ganz oft ganz schwer, das mitzusehen, mitzuerleben und nichts machen zu können. Und womit hat er das verdient und der hat doch gar nichts getan, wieso muss er denn jetzt so leiden, das sind so Fragen, die so kommen."

Susanne Berkenhoff nimmt ein paar Kekse und geht zu Elisabeth Buchner. Am Fahrstuhl steht Harald Dombrowski. Harald Dombrowski ist mit seiner Frau Margot verabredet. In der Cafeteria, unten in der Lazarus-Wohnanlage. Die Gehhilfe fest umklammert, kommt er nur langsam voran. Vor jeder Bewegung scheint er über deren Ablauf erst nachdenken zu müssen.

"Zum Glück bin ich noch recht unabhängig", sagt er trotzig-stolz.

Der ehemalige Finanzbeamte ist korrekt frisiert, korrekt gekleidet, selbst der "obligatorische" Westover fehlt nicht. Seine dunklen Augen haben jedoch alle Lebendigkeit verloren. Meist sind sie nach unten gerichtet.

Auch das gibt es im Hospiz. Selten zwar, aber es passiert: Harald Dombrowski kann wieder nach Hause. Sein Gesundheitszustand ist stabil und der 68-Jährige fühlt sich stark genug, den Alltag ohne "Rundum-Betreuung" zu meistern:

"Ich kann mir noch nicht vorstellen für meine Person, dass das schon alles ist für mich im Leben. Vielleicht, da hatte ich mich auch schon mit der Annegret drüber unterhalten, vielleicht komme ich später auch noch einmal wieder dann. Ich kann mir jedenfalls diese Art der Einrichtung sehr gut vorstellen inzwischen, und auch was den Tod betrifft. Da bin ich doch eigentlich beinahe erstmals da heran geführt worden, und ich seh das inzwischen auch schon mit etwas anderen Augen, obwohl ich immer auch trotzdem noch große Angst davor habe, ja."

Harald Dombrowski lebt seit vier Monaten im Hospiz:

"Ich bin hier praktisch aufgewacht nach einiger Zeit, nachdem ich längere Zeit in einem künstlichen Koma in einem anderen Krankenhaus stationiert war. Und bin aber hier wieder zu mir gekommen, und erst war mir Hospiz auch kein Begriff, und erst als ich hier mit einigen Leuten gesprochen hatte, auch mit dem Personal mich unterhalten hatte, wurde mir langsam klar: Das machte mich eigentlich traurig, würde ich sagen, weil ich darunter in erster Linie so die Endstation im Leben verstand, ja."

Seine Frau Margot nickt:

"Also, als ich als erstes ‚Hospiz’ gehört habe, da sind mir erstmal die Tränen gekommen. Und als ich hierher kam, war ich angenehm überrascht, das war eine sehr angenehme Atmosphäre hier. Ich wollte mir auch kein Zimmer ansehen, also ich wollte das erstmal von mir schieben. Und dann nachher, als er dann hier reinkam, hat mir das Zimmer gleich gut gefallen, und die Schwestern waren gleich sehr nett und ich hatte das Gefühl: Hier ist er gut aufgehoben. Wurde auch gleich umsorgt. Bei ihm hat auch viel die Psyche mitgespielt, ich weiß nicht, ob er es gespürt hat oder wie auch immer, aber er hat sich hier vielleicht getraut wieder aufzuwachen."

Margot Dombrowski ist korpulent, kräftig, zupackend, agil. Dem Leben zugewandt. Hier im Hospiz setzt sie sich zum ersten Mal mit dem Sterben auseinander:

"Na, das war natürlich nicht einfach. Ja, das war für mich eine ganz fremde Welt. Ich habe mich da früher nie so mit befasst. Bin fast jeden Tag hier und ich sehe jeden Tag auch Patienten und immer wieder neue. Und ich habe auch gesehen, wie die Patienten damit umgehen. Und naja, jetzt muss ich sagen, habe ich da eine ganz andere Einstellung schon bekommen. Ich habe, glaube ich, nicht mehr die große Angst, die ich früher hatte."

Nun bespricht sie mit ihrem Mann das Organisatorische. Welche Sachen sie schon mit nach Hause nimmt, was sie zur Begrüßung kocht.

"Ich weiß, dass das ein Geschenk ist", sagt Margot Dombrowski und schaut in die Ferne.

Oben im Hospiz räumen zwei Pfleger das Zimmer 313 aus. Ein Patient ist gestorben. Am Morgen steht vor der Tür eine blaue Schale mit einer weißen Stumpenkerze. Die Familie nimmt Abschied. Dann holt das Bestattungsinstitut den Verstorbenen ab. Bettet ihn in einen Sarg und fährt ihn über den Flur. Jetzt am Mittag ist die Kerze erloschen. Das Zimmer wird für einen neuen Patienten vorbereitet. Vor Zimmer 324 zündet Schwester Annegret gerade eine Kerze an. Elisabeth Gießmann ist tot. Annegret wäscht sie. Dabei spricht sie mit der Verstorbenen:

"Frau Gießmann, ich bin Schwester Annegret, wir haben gar nicht so viel zusammen gearbeitet und ich habe eine Schülerin noch mitgebracht und wir machen Sie jetzt noch mal ein bisschen schön und frisch."

"Bei uns ist es eben so, dass einfach ganz klar ist, dass auch ein Sterbender und ein Verstorbener eben noch ein Gegenüber ist. Diese Leiche ist noch ein würdiges Gegenüber, wir verabschieden uns von einem Menschen, der uns sein Vertrauen geschenkt hat. Und das ist jetzt nicht nur ein kaltes, totes Stück Fleisch, sondern das ist noch Herr Sowieso, Frau Sowieso, das ist noch ein Mensch, er hat das Recht, dass ich mich verabschiede, oder er hat auch das Recht da drauf, verabschiedet zu werden."

"Frau Gießmann, das finde ich gut, dass ich das mal anfassen kann, ohne dass es Ihnen weh tut! Frau Gießmann, Sie werden jetzt noch einmal gedreht zu Kristin."

Annegret legt die Bettdecke zur Seite. Zieht Elisabeth Gießmann das Nachthemd aus. Dreht sie behutsam auf die Seite. So, als ob die Tote noch immer die Schmerzen bei jeder Bewegung fühlt. Spricht wieder mit ihr.

"Frau Gießmann, ich kämme Ihnen jetzt die Haare. So, Frau Gießmann, einmal kurz auf die andere Seite!"

"Wenn jemand verstorben ist, dann hat er auch erstmal Zeit, zur Ruhe zu kommen. Punkt. Und dann muss erstmal gar nichts weiter passieren, außer dass ich den Tropf abmache oder die Schmerzpumpe, oder solche Zugänge und Ableitungen einfach erstmal zumache. Aber dann ist einfach auch erstmal Zeit, inne zu halten, dann ist einfach auch ein Kampf vorbei, oder eine Geburt oder wie auch immer man diesen Sterbevorgang bezeichnet. Und dann ist es so, dass bei uns jeder, der verstorben ist, noch mal schön gemacht wird. Und dann wird das schon auch unterschiedlich gemacht, ob man ihn mit seinem Parfüm noch mal einsprüht. Und dann kann er einfach geschmückt werden: Manchmal ist das ganze Bett mit Blüten bestreut, manchmal hat er einfach nur einen kleinen Strauß Blumen in der Hand und manchmal wird einfach auch noch ein Kreuz hingestellt, wenn ich weiß, er hatte eine religiöse Beziehung. Und dann ist unser äußeres Symbol einfach eine Kerze in einer blauen Schale vor der Tür und die Kerze bleibt solange einfach brennen, bis derjenige vom Bestattungsinstitut abgeholt wird. Und für uns ist es auch wichtig, dass immer ein richtig vollständiger Sarg vom Bestattungsinstitut mitgebracht wird, das hat ja auch etwas mit Würde zu tun."

Schwester Annegret zeigt auf den Nachttisch. Dort liegen die "Berliner Zeitung" von gestern und der "Stern". Er ist noch aufgeschlagen. Daneben ein kleiner Handspiegel.

"Sie war eine lebenslustige, interessierte Frau", erzählt Annegret. "Sie hat sich gern schön gemacht, sah immer gepflegt aus!"

Die Fingernägel von Elisabeth Gießmann sind lackiert. Perlmuttfarben. Perlmuttfarben auch die Ohrstecker, die sie trägt. Schwester Annegret lässt ihr sie.

"Ich gucke nochmal nach dem Tuch und magst du ihr einen Blumenstrauß holen? Frau Gießmann, das Tuch ist ein bisschen widerspenstig. Ein gute-Reise-Tuch."

Annegret nimmt sich Zeit beim Abschiednehmen. Sucht ein schönes Tuch für Elisabeth Gießmann heraus. Bindet es ihr um. Setzt sich zu ihr aufs Bett. Dass ihre Schicht seit einer Stunde vorbei ist, interessiert sie nicht. Seit sieben Jahren arbeitet die Pastorentochter und ausgebildete evangelische Krankenschwester im Lazarus-Hospiz.

"Ich liebe meine Arbeit", sagt sie und fügt lächelnd hinzu: "Es ist ja auch eine totale Chance für mich, mich mit 38 schon mit dem Tod auseinanderzusetzen. Ich persönlich erlebe, dass Abschiednehmen auch etwas sehr Schmerzvolles ist. Ich erlebe das schon sehr als etwas sehr Brutales, Rabiates, weil ein Leben zu beenden bedeutet ja auch: Ich muss ganz viel ungelebtes Leben mit begraben. Und für mich bedeutet das in der Konsequenz, dass ich bewusster lebe. Welche Lebensqualität habe ich überhaupt, wie doll kann ich das Leben im Jetzt genießen? Wie doll kann ich im Jetzt, im Heute, in dem jetzigen Tag einfach sein?"

Es klopft. Zwei Männer vom Bestattungsinstitut stehen vor der Tür. Schwester Annegret bittet um Geduld. Zum letzten Mal setzt sie sich zu der Toten aufs Bett. Streicht ihr über den Arm.

"Frau Gießmann, ich sage Ihnen jetzt Tschüss. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise und danke, dass wir Sie kennenlernen durften. Tschüss."