Leben im Krankheitsstand
Das Schicksal von vielen Menschen, deren Bewusstsein und geistiges Gerüst durch Krankheit oder einen Unfall verändert wurden, haben bisher nur wenige Schriftsteller zum Thema gemacht. Irina Korschunow wagt sich nun mit "Langsamer Abschied" auf dieses literarische Neuland und zeigt ein älteres Paar und seinen Umgang mit der Krankheit sowie seine veränderten Gefühle füreinander.
Eigentlich merkwürdig. Eigentlich nicht ganz zu verstehen. Da dringen Phänomene wie Alzheimer, Demenz, gehirnzerstörte Pflegefälle immer stärker in unsere Wirklichkeit, aber die Literatur nimmt doch nur sehr zögerlich von ihnen Notiz.
Sicher, der "Fall" Walter Jens, der, nach allem, was wir wissen, doch eher ein "Fall" Tilman Jens zu sein scheint, hat die Öffentlichkeit bewegt. Aber das Schicksal von vielen weniger prominenten Menschen, die unter Einwirkung von Krankheiten, die ihr Bewusstsein und ihr geistiges Gerüst total verändern, unter uns leben, weiter leben mit ihren Angehörigen, Familien, Freunden: dieses Schicksal haben bisher nur wenig Schriftsteller zum Thema gemacht.
Die 1925 geborene Erzählerin Irina Korschunow ist nun eine der wenigen, die es wagen. Ihr jüngster Roman "Langsamer Abschied" widmet sich ganz ausdrücklich der langen, schweren und finalen Krankheit, die ein kinderloses Paar - er, der Kranke, Physiker; sie Kunsthistorikerin - in den achtziger Jahren durchzustehen hat. Die Protagonisten sind zu diesem Zeitpunkt in ihren Vierzigern und Fünfzigern.
Die Autorin hat wohl nicht umsonst das erzählte Geschehen in die Vergangenheit verlegt. Sie will sich mit Nebensächlichkeiten nicht belasten. Mit schnellen, kräftigen Strichen sind die Umstände skizziert. Wir erfahren von einer Studentenliebe in Göttingen, Mitte der sechziger Jahre. Wir lesen von dem gemeinsamen jungen Ehestand eines bürgerlichen Paares in Hamburg, dessen einzige Besonderheit zu sein schient, dass die Frau mit dem bedeutungsvollen Namen Nora sich nicht mit dem Dasein der Professorengattin und Hausfrau zufrieden gibt. Vielmehr bastelt sie an ihrer eigenen Karriere als Fernsehmitarbeiterin mit einer Serie über berühmte Frauenbildnisse der europäischen Malerei.
Dem Kinderwunsch des Gatten Pierre öffnet sie sich erst spät - dann aber erfolglos. Pierre erfüllt sich infolgedessen seinen Kinderwunsch mit einer Zufallsbekanntschaft. Und dieses lange verheimlichte Kind wird schließlich Stein des Anstoßes für das Paar. Immer wieder gibt es Streit, auf den mit Ach und Krach die Versöhnung folgt. Bis eben eines Tages diese ausbleibt und ein wutentbrannter Pierre das Haus verlässt, den Wagen nimmt, prompt einen Unfall baut - und damit das Leben von Nora und Pierre eine drastische Wendung nimmt.
Was nun passiert: die langen Sitzungen Noras am Krankenbett, die quälend langsamen Heilfortschritte Pierres, schließlich ein Rückfall, so dass er ganz zum Pflegefall ohne jede Hoffnung auf Gesundung wird, die Zuhilfenahme einer Betreuerin, das fast als Selbstverlust zu bezeichnende neue Leben Noras, die nur noch für Pierre lebt, schließlich dann aber doch ihre Bewegung hin zu Leo, Pierres behandelnden Arzt, in dem sie plötzlich einen neuen möglichen Partner ausmacht und ihn dann auch nimmt: all das wird im Gegensatz zur Vorgeschichte von der Autorin sehr ausführlich und detailliert, dabei jedoch behutsam und psychologisch einfühlsam vor unseren Augen ausgebreitet.
Das Leben im Krankheitsstand, der bald auch auf den Gesunden übergeht, diese ganz eigenartige, inselhafte, isolierte Existenz von Menschen, deren Leben hauptsächlich im Pflegen, Sorgen, Warten auf Gesundung besteht: dieses Leben steht im Mittelpunkt des Romans. Und die Reflexionen, die es begleiten. Denn natürlich verändern sich in einer solchen Situation auch die Gefühle des gesunden Partners zu dem kranken, der ein anderer wird und doch der alte bleibt.
"Ein Gemenge aus Angst und Trauer, aber auch Spuren von Überdruss dazwischen und der grässliche Wunsch, dass es vorbei sein möge mit der Qual, endlich vorbei", wie es an einer Stelle des Romans heißt: das ist es, was Nora nun vor allem zu schaffen macht. Und Irina Korschunow teilt es uns mit.
Sie wertet nicht, sie zeigt uns vielmehr ihre weibliche Hauptfigur ausgespannt zwischen dem unbedingten Wunsch, Pierre das Leben zu erleichtern, dem belastenden Gefühl, dass sie mit dem von ihr vom Zaun gebrochenen letzten Streit für Pierres schrecklichen Zustand eine Mitverantwortung trägt und der schließlich immer weniger von der Hand zu weisenden Gewissheit, dass Pierre nicht mehr zu helfen ist, dass es für ihn nur noch die eine Erlösung geben kann: den Tod, der dann nach drei Jahren schließlich eintritt - das ist die "Gemengelage", die dieser Roman zum Gegenstand hat.
Damit betritt er beherzten Schrittes nicht nur literarisches Neuland. Damit lässt er den Leser auch auf dezente, doch gerade darum eindringliche Weise teilhaben an einem Erfahrungshorizont, der für immer mehr Menschen Teil ihrer Lebenswirklichkeit werden könnte. Nun ist Literatur bekanntlich keine Lebenshilfe, aber die Lektüre von Irina Korschunows schmalem Roman, der es in sich hat, kann uns trotzdem mental vorbereiten für eine Situation, in der wir selbst in "Gemengelagen" gelangen könnten, denen wir nicht gewachsen sind.
Da tut es gut, sich am Beispiel dieses Buches zu versichern, wie zumindest diese Nora damit umgegangen ist - nämlich ehrlich mit sich selbst und bei aller Aufopferung für ihren totgeweihten Pierre doch auch gehorsam gegenüber dem Gesetz des Lebens, unter dem sie als Gesunde selber steht.
Rezensiert von Tilman Krause
Irina Korschunow: Langsamer Abschied
Hoffmann und Campe, Hamburg 2009
160 Seiten, 17.95 EUR
Sicher, der "Fall" Walter Jens, der, nach allem, was wir wissen, doch eher ein "Fall" Tilman Jens zu sein scheint, hat die Öffentlichkeit bewegt. Aber das Schicksal von vielen weniger prominenten Menschen, die unter Einwirkung von Krankheiten, die ihr Bewusstsein und ihr geistiges Gerüst total verändern, unter uns leben, weiter leben mit ihren Angehörigen, Familien, Freunden: dieses Schicksal haben bisher nur wenig Schriftsteller zum Thema gemacht.
Die 1925 geborene Erzählerin Irina Korschunow ist nun eine der wenigen, die es wagen. Ihr jüngster Roman "Langsamer Abschied" widmet sich ganz ausdrücklich der langen, schweren und finalen Krankheit, die ein kinderloses Paar - er, der Kranke, Physiker; sie Kunsthistorikerin - in den achtziger Jahren durchzustehen hat. Die Protagonisten sind zu diesem Zeitpunkt in ihren Vierzigern und Fünfzigern.
Die Autorin hat wohl nicht umsonst das erzählte Geschehen in die Vergangenheit verlegt. Sie will sich mit Nebensächlichkeiten nicht belasten. Mit schnellen, kräftigen Strichen sind die Umstände skizziert. Wir erfahren von einer Studentenliebe in Göttingen, Mitte der sechziger Jahre. Wir lesen von dem gemeinsamen jungen Ehestand eines bürgerlichen Paares in Hamburg, dessen einzige Besonderheit zu sein schient, dass die Frau mit dem bedeutungsvollen Namen Nora sich nicht mit dem Dasein der Professorengattin und Hausfrau zufrieden gibt. Vielmehr bastelt sie an ihrer eigenen Karriere als Fernsehmitarbeiterin mit einer Serie über berühmte Frauenbildnisse der europäischen Malerei.
Dem Kinderwunsch des Gatten Pierre öffnet sie sich erst spät - dann aber erfolglos. Pierre erfüllt sich infolgedessen seinen Kinderwunsch mit einer Zufallsbekanntschaft. Und dieses lange verheimlichte Kind wird schließlich Stein des Anstoßes für das Paar. Immer wieder gibt es Streit, auf den mit Ach und Krach die Versöhnung folgt. Bis eben eines Tages diese ausbleibt und ein wutentbrannter Pierre das Haus verlässt, den Wagen nimmt, prompt einen Unfall baut - und damit das Leben von Nora und Pierre eine drastische Wendung nimmt.
Was nun passiert: die langen Sitzungen Noras am Krankenbett, die quälend langsamen Heilfortschritte Pierres, schließlich ein Rückfall, so dass er ganz zum Pflegefall ohne jede Hoffnung auf Gesundung wird, die Zuhilfenahme einer Betreuerin, das fast als Selbstverlust zu bezeichnende neue Leben Noras, die nur noch für Pierre lebt, schließlich dann aber doch ihre Bewegung hin zu Leo, Pierres behandelnden Arzt, in dem sie plötzlich einen neuen möglichen Partner ausmacht und ihn dann auch nimmt: all das wird im Gegensatz zur Vorgeschichte von der Autorin sehr ausführlich und detailliert, dabei jedoch behutsam und psychologisch einfühlsam vor unseren Augen ausgebreitet.
Das Leben im Krankheitsstand, der bald auch auf den Gesunden übergeht, diese ganz eigenartige, inselhafte, isolierte Existenz von Menschen, deren Leben hauptsächlich im Pflegen, Sorgen, Warten auf Gesundung besteht: dieses Leben steht im Mittelpunkt des Romans. Und die Reflexionen, die es begleiten. Denn natürlich verändern sich in einer solchen Situation auch die Gefühle des gesunden Partners zu dem kranken, der ein anderer wird und doch der alte bleibt.
"Ein Gemenge aus Angst und Trauer, aber auch Spuren von Überdruss dazwischen und der grässliche Wunsch, dass es vorbei sein möge mit der Qual, endlich vorbei", wie es an einer Stelle des Romans heißt: das ist es, was Nora nun vor allem zu schaffen macht. Und Irina Korschunow teilt es uns mit.
Sie wertet nicht, sie zeigt uns vielmehr ihre weibliche Hauptfigur ausgespannt zwischen dem unbedingten Wunsch, Pierre das Leben zu erleichtern, dem belastenden Gefühl, dass sie mit dem von ihr vom Zaun gebrochenen letzten Streit für Pierres schrecklichen Zustand eine Mitverantwortung trägt und der schließlich immer weniger von der Hand zu weisenden Gewissheit, dass Pierre nicht mehr zu helfen ist, dass es für ihn nur noch die eine Erlösung geben kann: den Tod, der dann nach drei Jahren schließlich eintritt - das ist die "Gemengelage", die dieser Roman zum Gegenstand hat.
Damit betritt er beherzten Schrittes nicht nur literarisches Neuland. Damit lässt er den Leser auch auf dezente, doch gerade darum eindringliche Weise teilhaben an einem Erfahrungshorizont, der für immer mehr Menschen Teil ihrer Lebenswirklichkeit werden könnte. Nun ist Literatur bekanntlich keine Lebenshilfe, aber die Lektüre von Irina Korschunows schmalem Roman, der es in sich hat, kann uns trotzdem mental vorbereiten für eine Situation, in der wir selbst in "Gemengelagen" gelangen könnten, denen wir nicht gewachsen sind.
Da tut es gut, sich am Beispiel dieses Buches zu versichern, wie zumindest diese Nora damit umgegangen ist - nämlich ehrlich mit sich selbst und bei aller Aufopferung für ihren totgeweihten Pierre doch auch gehorsam gegenüber dem Gesetz des Lebens, unter dem sie als Gesunde selber steht.
Rezensiert von Tilman Krause
Irina Korschunow: Langsamer Abschied
Hoffmann und Campe, Hamburg 2009
160 Seiten, 17.95 EUR