Leben im Hoch

Von Uwe Bork |
Früher gab es in Deutschland manchmal das sogenannte Kaiserwetter: Strahlender Sonnenschein, angenehme Temperaturen und kein Wölkchen am Himmel. Kaiser Wilhelm Zwo, der Namensgeber dieser damals offensichtlich eher raren Witterung, schätzte es nämlich gar nicht, wenn ihm der Regen auf seine Paraden prasselte.
Wenn er sich schon seinem Volke präsentierte, wollte er leuchtendes Blau über sich. Doch das gab es anscheinend seltener, als ihm lieb war, und da ihm schlechtes Wetter die Grenzen seiner Macht vor Augen führte, blieb er bei Regen grollend in seinem Schloss und ließ seine Untertanen alleine nass werden.

Heute, ein knappes Jahrhundert später, hat sich die Situation ziemlich geändert. Nicht nur sind wir unseren Kaiser los und die Zahl der Paraden geht in Deutschland inzwischen glücklicherweise gegen Null, Wilhelms demokratischer Nachfolger kann sich mittlerweile auch über ein Klima freuen, für das die Bezeichnung "Kanzlerwetter" durchaus angebracht wäre, hätten wir den Personenkult feudaler oder real-sozialistischer Provenienz nicht längst abgeschafft. Sollte es so weitergehen wie in den Vorjahren, steht Deutschland in den kommenden Sommerwochen einmal mehr ein Leben im Hoch bevor, ein für mitteleuropäische Verhältnisse geradezu ausschweifendes Dasein im Schutz einer meteorologischen Ausnahmeerscheinung.

Mag auch Spanien verdorren, Portugal sich langsam braun färben und in Frankreich das Trinkwasser knapp werden: Wir Deutschen sind endlich einmal auf der Gewinnerseite! Zumindest was das Wetter angeht: Die Wachstumsvorhersagen für die Quecksilbersäulen in den Thermometern übertreffen jedenfalls eindeutig diejenigen für die wirtschaftliche Konjunktur.

Doch haben wir wirklich Grund zum Jubeln? Ist Freude angesichts der nachhaltigen Erwärmung unserer bundesweiten Atmosphäre wirklich angebracht?

Nein, hier soll es nicht ein weiteres Mal darum gehen, dass sogar auf der Zugspitze die Gletscher wegzuschmelzen beginnen, dass die Äpfel am Bodensee inzwischen Sonnenbrand bekommen und in Franken die Eichen von Raupen kahl gefressen werden, die es früher nur wesentlich weiter südlich gab. Hier soll die Hitze einmal als ein gesellschaftliches Phänomen betrachtet werden.

Das zentrale und nördliche Europa, so ist es nicht nur an Stammtischen oft genug zu hören, habe es zivilisatorisch und ökonomisch nur deshalb so weit gebracht, weil es klimatisch nicht sonderlich begünstigt sei. Während in tropischen und subtropischen Gefilden die Früchte des Waldes den Menschen praktisch nur so in den Mund zu wachsen pflegten, waren unsere Vorfahren mehr oder weniger gezwungen, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts selbst aktiv zu werden.

Statt als bloße Jäger und Sammler durch eine opulent wuchernde Natur zu streifen, die es bei ihnen nicht gab, waren sie gezwungen, Ackerbau und Viehzucht zu kultivieren. Und weil die Kälte sie - mehr als im Süden üblich - in die Enge ihrer Stuben zwang, ließen sie ganz einfach ihren Geist wandern und erfanden das Auto, das Farbfernsehen und den Computer.

Und heute? Die Sommer sind bei uns heiß geworden wie am Äquator, Ballermann gibt es bald auch auf Baltrum, und was sind schon die schwülen Nächte von Ibiza gegen diejenigen von Itzehoe? Seit die Internationale wenigstens in einem Punkt Recht behalten hat und "die Sonn' bei uns ohn' Unterlass" scheint, lässt das aufgeheizte Klima selbst genügsame schwäbische Tüftler in Straßencafés, Bistros und Biergärten langsam zu mediterranen Genussmenschen mutieren. Und die neigen – so hört man zumindest - nun einmal mehr zur Siesta als zur Sonderschicht, zum Dolce Vita als zum Dauerstress.

Vielleicht hat Bundespräsident Horst Köhler vor diesem Hintergrund das falsche Bild gewählt, als er jüngst in einer Grundsatzrede kühl feststellte, an die ökonomische Spitze komme man nicht im Schlafwagen. Wer will denn eigentlich noch schlafen im tropischen Deutschland, wenn uns das Klima vielmehr dazu verführt, die Nacht zum Tage zu machen?

Wer einmal in italienischen Sommernächten erlebt hat, wie sich ebenso kopf- wie lautstarke Großfamilien noch weit nach Mitternacht an einer Gelateria versammeln oder wie ein Autocorso nach dem anderen sich bis kurz vor Morgengrauen laut hupend durch schmale Altstadtstraßen schlängelt, der weiß, was demnächst auf uns zukommt.

Aber vielleicht wird ja alles doch noch ganz anders. Vielleicht setzen sich in Deutschland ja diejenigen durch, die uns wieder zu längerer Arbeit zwingen wollen. Vielleicht haben wir allerdings ihre Motive bisher falsch gedeutet: Vielleicht geht es ihnen gar nicht um die Senkung der Arbeitskosten und die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit. Vielleicht wollen sie gar nicht in erster Linie, dass sich unsere Leistung für sie wieder lohnt. Eventuell möchten sie ja nur wieder mehr Ruhe in der Nacht und für sich selber ein sonniges Plätzchen auf der Piazza. Bevor denn die schlichten Werktätigen alles belegen.

Doch gemach! Alle diese Spekulationen könnten hinfällig werden, denn letztlich könnte der kalte Wind des Kapitalismus seinen Strich durch alle Rechnungen machen. Bläst er doch gegenwärtig machtvoll über den gesamten Globus und sorgt dafür, dass das soziale Klima einen wahrhaften Temperatursturz erlebt hat.

Von Kanzlerwetter kann da nun wirklich keine Rede mehr sein.

Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinandersetzt.