Leben für die Anarchie

03.09.2009
Eigentlich stand dem 1853 in ein wohlhabendes Elternhaus hineingeborenen Errico Malatesta ein sorgenfreies Leben bevor. Die Eltern ermöglichten ein Medizinstudium, um ihrem Sohn den Weg zur reibungslosen Fortsetzung ihrer bürgerlichen Existenz frei zu machen.
Doch Errico Malatesta spielte nicht mit, brach das Studium ab und ging lieber arbeiten. Malatesta entschied sich für ein entbehrungsreiches Leben in den Reihen der einfachen Leute, "weil es unmöglich ist, im Volk Revolution zu propagieren, ohne sein Schicksal zu teilen".

Statt von den Erträgen der Mietshäuser zu leben, die er von seinen früh verstorbenen Eltern geerbt hatte, überließ er diese den darin wohnenden Familien und schlug sich als Lastenträger, Eisverkäufer, Lehrer, Schlosser und Elektriker durch.

Bereits als 14-Jähriger hatte er König Vittorio Emanuele II. einen Brief geschrieben, indem er sich über die sozialen Missstände in Italien beschwerte. Mit 17 wurde er als Student der Universität von Neapel erstmals verhaftet, weil er mit Gleichgesinnten zu einem Vorlesungsboykott aufrief. Es war der Auftakt zu einem rastlosen Leben im Dienste der Anarchie. Malatesta war ein Getriebener, ständig auf der Flucht vor Spitzeln und Polizei. Von 79 Lebensjahren verbrachte er 36 im Exil und über zehn in diversen Gefängnissen. Ein Leben lang war er beseelt von seinen Idealen.

Errico Malatesta war ein berühmter Anarchist – von seinem bewegten Leben sind jedoch kaum Quellen erhalten. Viel autobiographisches Material ist bei einem Wohnungsbrand verloren gegangen. Außerdem nahm sich Malatesta selten Zeit für eigene Aufzeichnungen. Nun haben Piero Brunello und Pietro Di Paola versucht, aus Briefen und anderen Fundstücken das Leben des Errico Malatesta zu rekonstruieren. Ein schwieriges Unterfangen.

In den oft anekdotischen Briefen geht es meist um Details aus persönlichen Beziehungen, die eng mit der allgemeinen politischen Entwicklung zusammenhängen - die aber ohne zusätzliche Informationen nur schwer verständlich sind. Es gibt im Anhang detaillierte Anmerkungen. Aber die biographischen Daten von Personen, die vor über 100 Jahren in der anarchistischen Szene Italiens eine Rolle spielten, helfen leider nicht viel weiter, da die Leser oft mit Namen, Fakten und Ereignissen allein gelassen werden. Zugang zu der Politik- und Lebensgeschichte, die dieses Buch erzählt, bekommt daher nur, wer sich in der italienischen Geschichte gut auskennt.

"Wann werden die Arbeiter endlich lernen, selbst zu handeln und begreifen, dass sie, selbst wenn sie den Besten unter ihnen zur Macht verhelfen, sich diese unvermeidlich zu Feinden machen." So spricht Malatesta in London auf einer Kundgebung mit einer Million Menschen im Hyde Park. Der 37-jährige Malatesta ist inzwischen zu einer gefürchteten und geachteten Symbolfigur der internationalen Anarchistenszene geworden. Als erklärter Gegner des Parlamentarismus und der Demokratie sieht er nur in der direkten Aktion Möglichkeiten, die bestehenden Verhältnisse zu ändern.

Malatesta ist ein kleiner, uneitler Mann, der keinen Wert auf Äußerlichkeiten legt. Er hasst es, im Mittelpunkt zu stehen, weil er sich so kaum noch von den autoritären Führern, die er bekämpft, unterscheiden würde. Als besonnener, aber eindringlicher Redner versteht er es, die Menschen schnell von seinen Ideen zu überzeugen. Malatesta empfindet es als Pflicht der Anarchisten, jede Möglichkeit zur Durchführung der Revolution zu ergreifen. Notfalls auch mit Gewalt. Deshalb wird er ein Leben lang, wo immer er sich aufhält, von den Behörden bespitzelt und verfolgt.

Er hat sich standhaft geweigert, eine Autobiografie über sein abenteuerliches Leben zu schreiben. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, wie schwierig es offenbar für die Nachwelt ist, dies nachzuholen. Immerhin – es gibt bis heute eine anarchistische Zeitschrift, die Malatesta 1920 gegründet hat: "Umanità Nova". Aber das wird in dem Buch leider nicht erwähnt.

Besprochen von Thomas Jädicke

Errico Malatesta: Ungeschriebene Autobiografie. Erinnerungen (1853 – 1932)
Herausgegeben von Piero Brunello und Pietro Di Paola
Nautilus Verlag, Hamburg
224 Seiten, 16,90 Euro