Leben an der irisch-nordirischen Grenze

Die Angst vor erneuter Gewalt

08:28 Minuten
Mit einem Tuch bedeckt liegt eines der Todesopfer auf dem Boden. Am 30. Januar 1972 wurden 13 katholische Demonstranten während einer friedlichen, jedoch verbotenen Kundgebung in der nordirischen Stadt Derry von britischen Fallschirmjägern erschossen.
30. Januar 1972: Am sogenannten Bloody Sunday erschossen britische Soldaten 13 katholische Demonstranten während einer friedlichen, jedoch verbotenen Kundgebung in der nordirischen Stadt Derry. © picture alliance/dpa/UPI
Von Etienne Roeder · 17.04.2019
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Über Jahrzehnte lieferten sich Protestanten und Katholiken einen blutigen Machtkampf in Nordirland. Erst das Karfreitagsabkommen von 1998 befriedete die Grenzregion. Mit dem Brexit könnte die Gewalt zurückkehren.
"Ok, also wir fahren gerade von der Republik Irland Richtung Nordirland, wo ich herkomme. Und Deine Aufgabe wird es sein herauszufinden, wann wir die Grenze überqueren. Die ist momentan unsichtbar. Als Kind war ich oft hier und die Grenze war damals sichtbar."
Es ist eine malerische Landschaft. Hügelig, mit flachen Steinmauern und einfachen Bauernhäusern. Grüne Wiesen, Schafe und die gelben Blüten des Stechginsters, sie künden vom Frühling. Die Straßen mäandern durch die Landschaft von County Louth. Linksverkehr hüben wie drüben.
"Wir kommen jetzt nach Omeith, ein kleines Dorf genau auf der Grenze. Hier habe ich in meiner Kindheit die Ferien verbracht."
Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ist die physische Grenze zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich verschwunden.
"Du musst einfach nicht mehr über die Teilung nachdenken. Das ist der größte Vorteil. Nordirische Nationalisten, die eine vereinigte Insel anstreben, werden nicht jeden Tag aufs Neue daran erinnert, dass ihr Land geteilt ist. Sie können einfach ohne Probleme von Nord nach Süd reisen, sie können als Nordiren einen Pass der irischen Republik besitzen und genießen alle Rechte eines irischen Staatsbürgers."
Aber der größte Vorteil ist: Die Gewalt hat aufgehört.

Reger Grenzverkehr in der Region

In Connor Garrets Kindheit stand noch der Grenzkontrollpunkt mit Zollhütte. Die ist heute ein Minisupermarkt, Eurolines, steht in großen Lettern über dem Eingang. Hinter dem Tresen steht der 17-jährige Cein. Er hat die harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland nicht mehr erlebt. Aber wenn es die wieder gäbe?
"Das wäre echt beschissen. Ich meine, darüber wäre hier niemand glücklich."
"Ob es wieder zu Gewalt kommen würde?"
"Wahrscheinlich nicht… hoffentlich nicht."
Cein scheint zunächst sicher und ist dann unsicher. Viele Nordiren kämen aus dem benachbarten Neary, um hier einzukaufen, viele Iren arbeiten im Gegenzug im Norden.
Könnte er wählen, würde er für ein vereinigtes Irland stimmen.
Wir fahren weiter. Plötzlich wechselt die Fahrbahnmarkierung von gelb auf weiß und ein Schild weist darauf hin, dass ab nun in Meilen und nicht mehr in Kilometern gemessen wird.


Die Politik hier sei ein Minenfeld, damit sei er groß geworden, resümiert Conor. Über das Schild mit der Geschwindigkeitsanzeige ist ein Graffito aus drei großen schwarzen Lettern gesprüht: IRA. Irish Republican Army. Wir sind in Nordirland.
Ein Schild an der irisch-nordirischen Grenze auf dem steht: "Hört auf unsere Stimmen. Respektiert unsere Wahl. Keine EU-Grenze in Irland."
Ein Schild an der irisch-nordirischen Grenze auf dem steht: "Hört auf unsere Stimmen. Respektiert unsere Wahl. Keine EU-Grenze in Irland."© Deutschlandradio / Etienne Roeder

Es drohte ein Bürgerkrieg

James Dingley ist irischer Soziologe. Mit ihm fahre ich zu den Peace Walls, den Friedensmauern im Westen von Belfast. Sie sind bis zu zehn Meter hoch und wurden zu Beginn der 70er-Jahre, als die Auseinandersetzungen zwischen Loyalisten/ Protestanten und Republikanern/ Katholiken fast zum Bürgerkrieg führten, mitten durch die Stadtviertel gezogen.
Das ist also eine Friedensmauer. Sie trennt die beiden Konfliktparteien voneinander und zeigt ziemlich deutlich, dass wir das Problem hier überhaupt nicht gelöst haben. Zwischen den Bevölkerungsgruppen gibt es kein Gefühl einer gemeinsamen Identität, kein Gefühl einer gemeinsamen Zukunft. Das Karfreitagsabkommen hat diesen Zustand durch den Bau der Mauern nur in Stein gemeißelt.

Die Mauer, die Belfast teilt

Auch heute noch leben die Konfessionen nach Vierteln getrennt, die Kinder gehen auf getrennte Schulen. Wir fahren auf republikanischer Seite der Mauer weiter zur Northumberland Street, zu einer Art Checkpoint, an dem zwei riesige Tore die Stadtteile trennen. Dazwischen eine ca. 50 Meter breite Pufferzone. Gerade breit genug, damit die beiden Parteien sich nicht bewerfen können, meint Dingley. Die Tore mit den spitzen Zacken wirken martialisch, aber sie stehen offen.
"Die Teilung ist noch genauso wie früher. Die Wandgemälde hier auf der republikanischen Seite zum Beispiel drücken noch immer die gleiche Unterstützung für die IRA aus wie früher. Hier steht: "Ende dem Konfessionalismus!" oder: "Die Mauern müssen weg!" Das ist leicht gesagt: Denn sie wurden errichtet, damit Protestanten und Katholiken sich nicht mehr gegenseitig umbringen. Die Angst ist da, dass das ohne diese Mauern wieder beginnt."


Wir stehen vor einem über mannshohen Portrait des PKK-Führers Abdullah Öcalan, etwas weiter entfernt ein Bild von Nelson Mandela.
"Die Republikaner sind ziemlich gut darin, ihre Causa mit dem internationalen Kampf gegen Imperialismus und Unterdrückung zu verbinden. Obwohl es sehr streitbar ist, wie links sie selber wirklich sind. Ihre PR jedenfalls ist überragend."
Eine Friedensmauer teilt am 27.02.2017 in Belfast (Nordirland) ein pro-irisches Wohnviertel von einem pro-britischen Wohnviertel (aufgenommen von pro-irischer Seite). 
Eine Friedensmauer teilt in Belfast (Nordirland) ein pro-irisches Wohnviertel von einem pro-britischen Wohnviertel (aufgenommen von pro-irischer Seite). © picture alliance/dpa/Mariusz Smiejek
James Dingley weiß, was auf dem Spiel steht, wenn durch den Brexit eine harte Teilung, eine EU-Außengrenze, Realität wird.

Die terroristischen Strukturen sind noch intakt

Es gibt die Angst, dass einige der alten Geister zurückkehren. Vor allem, weil sie eigentlich nie wirklich verschwunden waren. Im Karfreitagsabkommen wurden die bewaffneten Gruppen nicht verpflichtet, sich zu entwaffnen. Die terroristischen Strukturen, ob bei Loyalisten oder Republikanern, sind also noch immer intakt.
Dingley sagt, er könne sogar an der Körperhaltung erkennen, ob jemand Katholik oder Protestant sei. Es gibt viele kleine Zeichen und unsichtbare Grenzen in Belfast.
"Die Friedenslinien haben ja eigentlich nur Territorium markiert. Nach dem Motto: Hier sind wir sicher. Dort drüben nicht. Und seit Mitte der 90er-Jahre, spätestens seit dem Karfreitagsabkommen, stehen die Tore hier eigentlich offen."


Plötzlich passiert kein Auto mehr die stark befahrene Straße. Der Grund: Die Mauern, von denen Dingley gerade noch sprach, sind auf einmal geschlossen. Sein Auto auf der anderen Seite. Wir rennen…
Wir huschen durch eine letzte offene Tür. Ein gedrungener Mann schließt hier jeden Abend die Tore. Wie damals zu Hochzeiten des Konflikts. Heute schwelen die Konflikte nur knapp unter der Oberfläche, sagt Dingley, der kleinste Funke könne hier wieder zur Gewalt führen. Der Mann mit dem Schlüssel sieht das jedoch ganz anders. Wenn es nach den Menschen ginge, würden die Mauern verschwinden.
Hilfsmannschaften und Polizei suchen nach dem Bombenanschlag am 15. August 1998 in der nordirischen Stadt Omagh nach Überlebenden. Die Explosion tötete 29 Menschen und verletzte mehr als 220.
Bombenanschlag am 15. August 1998 in der nordirischen Stadt Omagh: Die Explosion tötete 29 Menschen und verletzte mehr als 220.© picture alliance/dpa/epa afp Alan Lewis

Parteien nutzen Angst der Menschen

Ob Republikaner von Sinn Fein oder die Unionisten Nordirlands: Alle würden aus der Teilung und der Angst Kapital schlagen, sagt der Mann, der die Tore zwischen protestantischen und katholischen Vierteln schließt.
"Ich muss das leider jeden Abend machen. Und das macht mich manchmal auch traurig. Nach 21 Jahren Friedensprozess, weißt Du?"
Kurz nachdem der Brexit verschoben wurde, säumen schon Wahlkampfplakate für die Europawahl die Straßen der Hauptstadt Nordirlands. Katholische Kandidaten in den katholischen Vierteln, protestantische in den Protestantischen Vierteln. Umfragen zufolge wächst eine parteiübergreifende Mehrheit für eine Vereinigung Irlands, sollte der Brexit eine EU-Außengrenze durch die Insel ziehen.
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