Leben am Nullpunkt

Von Michael Hillebrecht · 12.04.2012
Ein Underdog ist Tom McCarthy längst nicht mehr. 2010 war er mit dem Roman "K" für den Booker-Preis nominiert. Doch bis dahin war es ein weiter Weg: McCarthy agierte zunächst mehr in der Kunstwelt, veröffentlichte Manifeste und setzte sich mit provokanten Kunstaktionen in Szene.
"In Greenwich aufzuwachsen ist eigenartig. London ist eine so große und weitläufige Stadt. Und Greenwich gehört zu London, aber gleichzeitig ist es sehr abgeschieden. Es ist viel grüner und es liegt am Rand. Wir stehen hier und man sieht die City wie eine Fata Morgana in der Ferne."

Tom McCarthy genießt den Blick auf London von einer Anhöhe im Greenwich Park. Unterhalb des Parks schlängelt sich die Themse in weiten Bögen dahin und von hier oben kann man fast die ganze Stadt überblicken. Der 42-jährige Autor ist in Interviews äußerst sparsam mit persönlichen Details aus seinem Leben. Vielleicht kann man ihm näher kommen, wenn man ihn am Ort seiner Kindheit trifft.

"Wie das so ist, Kindheitslandschaften prägen sich sehr stark im Bewusstsein ein. Die Landschaft, die wir gerade betrachten, ist also der wichtigste Eindruck, den ich habe. Immer ist es diese Landschaft."

Tom McCarthy hat in Prag, Berlin und Amsterdam gelebt, ist aber schließlich wieder in seine Heimatstadt London zurückgekehrt. Bei seinen öffentlichen Auftritten verbirgt sich Tom McCarthy gerne, indem er Rollenspiele vollführt. Er ist nicht nur Gründer sondern auch "Generalsekretär" des Künstler-Netzwerks International Necronautical Society. In dieser Rolle veröffentlicht er Manifeste und verliest bei öffentlichen Veranstaltungen intellektuelle Deklarationen. Im Park von Greenwich erfährt man mehr über die Dinge, die den Tom McCarthy hinter diesen öffentlichen Masken geprägt haben. Fragen zu seiner Familiengeschichte beantwortet er aber auch hier nur sehr zurückhaltend:

"Ich denke, ich komme aus einer ganz normalen Familie der Mittelklasse. Meine Mutter war Lehrerin und Altphilologin und sie erzählte uns die Geschichten aus der Odyssee oder Shakespeares 'Kaufmann von Venedig' im Auto, damit mein Bruder, meine Schwester und ich aufhörten uns zu streiten. Ich bin also bereits mit Literatur aufgewachsen. Das ist alles, was ich über meine Kindheit zu sagen habe."

Tom McCarthy spricht lieber über Literatur als über seine Familie. Und zwischen der Literatur und der Parklandschaft von Greenwich bestehen für ihn nach wie vor ganz konkrete Beziehungen:

"Für mich findet Moby Dick hier statt, auf diesem Gras und mit diesen Gebäuden. Rilkes 'Sonette an Orpheus' sind angesiedelt auf dem Hügel direkt hinter uns. Und zwar ganz genau auf diesem Hügel! Als Kind bin ich mit dem Schlitten diesen Berg hinunter gefahren und aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht kenne, beginnt dort die Unterwelt, vielleicht weil es nach unten geht."

Es sind für Tom McCarthy nicht nur Bücher, die eine konkrete räumliche Verortung finden:

"Ich denke über Dinge sehr oft in der Form von Landschaften nach, sogar wenn es um Ideen geht. Ich stelle sie mir wie ein Diagramm oder etwas Ähnliches vor."

Menschliche Gedanken und Systeme, die auf die Welt projiziert werden, dafür interessiert sich Tom McCarthy auch in seiner eigenen künstlerischen und literarischen Arbeit. Dazu zählen auch technische Systeme, wie etwa die Netzwerke der Medien, welche die Welt umspannen. Funk und Radio spielen in seinem neuen Roman "K" eine wesentlich Rolle. Mit der International Necronautical Society errichtete McCarthy eine eigene Radiostation in den Räumen einer Galerie. Ein besonders prägnantes Beispiel für ein menschliches System, das auf die Welt projiziert wird, findet man nicht ganz zufällig im Park von Greenwich. Durch den Hof des "Königlichen Observatoriums" verläuft der Null-Meridian, der Längengrad Null:

"Ich stehe jetzt auf der Linie, sie markiert den Nullpunkt. Das ist das Zentrum der Erde, von hier kommt die Zeit. Es ist buchstäblich eine Linie, die man in die Erde eingeschnitten hat und es ist total willkürlich. Der Äquator ist der nullte Breitengrad, weil das gewissen magnetischen und geologischen Eigenschaften der Erde entspricht, aber diese Linie hier wurde vollkommen willkürlich festgelegt. Sie könnte überall sein."

Im Gegensatz dazu könnte die Parklandschaft von Greenwich für Tom McCarthy nicht überall sein, sie ist für ihn nicht austauschbar. Mit ihrer ganz spezifischen Mischung aus grüner Randlage und dem Panoramablick auf London hat sie sein Denken und seine Sicht der Welt sehr stark geprägt. Fragen nach dem Einfluss seiner Familie auf seine persönliche Entwicklung entweicht McCarthy aber auch in Greenwich geschickt und führt das Gespräch wieder zur Parklandschaft zurück und zu Themen der Literatur. Trotzdem kann man jedem seiner Worte entnehmen, wie sehr diese Landschaft für ihn persönlich aufgeladen ist.

Programmhinweis:
Mehr über Tom McCarthy gibt es in Deutschlandradio Kultur am 15. April um 0.05 Uhr: "Die Module spielen verrückt. Trauma und Technik bei Tom McCarthy"
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