Leben als Gedächtnisraum

05.02.2013
In "Der gleiche Weg an jedem Tag" erzählt Gabriela Adamesteanu, wie ein Mädchen im Rumänien der 50er- und 60er-Jahre versucht, ein Leben als Individuum zu führen. Der 1975 erschienene bedrückende Debütroman der späteren PEN-Präsidentin ist nun auf Deutsch zu haben.
Die Welt ist alles, was die Diktatur ist. So tief ist die Diktatur eingesickert in den Alltag, dass von ihr nicht gesprochen wird. Vielleicht müsste sich Onkel Ion nicht dem Druck von oben beugen, jedem Konflikt ausweichen und dem Schuldirektor auch noch erlauben, seinen Namen unter die eigenen Artikel zu setzen. Aber wer weiß das schon?

Schließlich sitzt Victor Branea, der Vater der Erzählerin, wegen seiner Nähe zu den faschistischen Machthabern der 40er-Jahre im Gefängnis. Die Erzählerin Letitia hat deshalb eine "schlechte Akte" und darf in der Schule nicht auffallen. Ihre Mutter ist zwar geschieden von dem Inhaftierten, doch die Nachbarn beschimpfen sie als Faschistin. In der Diktatur gilt Sippenhaft. Das Individuum existiert nicht.

Gabriela Adamesteanu, vor 1989 Dissidentin, danach PEN-Präsidentin und Chefredakteurin verschiedener Kulturzeitschriften, erzählt in ihrem Debütroman "Der gleiche Weg an jedem Tag" aus dem Jahr 1975 vom Versuch eines Mädchens, im kommunistischen Rumänien der 50er- und 60er-Jahre zu dem zu werden, wie sie sagt, was sie ist. Was aber ist sie? Für ihre Individuation gibt es kein Vorbild, keinen Raum und kein Verständnis. Dennoch scheitert sie nicht vollständig. Vor allem aber gelingt der Roman über sie.

Adamesteanu lässt ihre Hauptperson mit einem gewaltigen Sensorium für die Nahwelt und wie mit gesenktem Kopf herumlaufen. Es ist ein Roman ohne Horizont, ohne Perspektive. Nur einmal erblickt Letitia das Meer. Beständig aber fallen ihr Details ins Auge, Liebloses und Verfallenes, Schadstellen an Kleidern und Körpern, einmal pulst "obzsön der von inneren Säften schwellende rosa-violette Körper eines berauschten Regenwurms" neben ihrem Schuhabsatz. Es wird unvermittelt dunkel, nahebei schlägt ein Mann sein Wasser ab. Ein Mädchen will dem "gewaltigen Elend" entkommen.

Schutz bieten Letitia ihre Mutter und ihr Onkel Ion. Alle drei hausen nicht ohne Konflikte, aber einvernehmlich in einem Zimmer. Nach dem Abitur zieht Letitia in ein Bukarester Studentenwohnheim und findet in den sechs Zimmergenossinnen, deren Gedanken sich allein ums Aussehen, um Männer und um die Zuzugsgenehmigung für die Hauptstadt drehen, eine Ersatzfamilie. Im dritten Teil des Romans nähert sie sich dann mit dem Gefühl, selbstständig zu werden, einem jungen Wissenschaftler, der ihr hilft, die aus politischen Gründen unveröffentlichten Schriften des verstorbenen Onkels zu publizieren.

"All die Tage hatte ich an mir gearbeitet, als müsste ich mich aus Sand modellieren", doch nun scheint Letitia am Ziel: Mit Petru als Ehemann könnte sie in Bukarest bleiben. Der Preis ist die Individualität, was Gabriela Adamesteanu in ein beängstigendes Bild fasst: Seine Gesichtszüge überströmen ihre und lassen sie erstarren.

Das dichte Netz des Romans aus kurzen Szenen, Impressionen und Gedanken hat Georg Aescht in ein rhythmisches, behutsam poetisierendes Deutsch übertragen. Die Fallstricke des Raunens und der Direktheit werden bis auf zwei, drei Mal glücklich vermieden. Die Autorin bleibt der Perspektive ihrer sich erinnernden Heldin treu und nutzt geschickt den Inneren Monolog: das Leben als Gedächtnisraum. Dass der Roman bereits 1975 veröffentlicht werden konnte, vermutlich als Erzählung über die sich langsam lockernden stalinistischen Bande, erklärt die politischen Aussparungen. Heute verleihen sie dem Buch eine beeindruckende klaustrophobische Geschlossenheit.

Besprochen von Jörg Plath

Gabriela Adamesteanu: "Der gleiche Weg an jedem Tag",
Roman, aus dem Rumänischen von Georg Aescht
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2013,
436 Seiten, 22,95 Euro

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