Lawrence Weschler: "Oliver Sacks"

Über das Ringen mit dem Leben

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Zu sehen ist das Buchn "Oliver Sacks – Ein persönliches Porträt" von Lawrence Weschler.
Nicht alle, die Oliver Sacks als Autor schätzen, werden an dieser Fülle an Informationen ausschließlich Freude haben. © Deutschlandradio / Rowohlt Verlag
Von Susanne Billig · 11.08.2021
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Oliver Sacks war ein Hüne und von überbordendem Temperament, sowohl in seinen Begeisterungen wie in seinen depressiven Phasen. Eine neue Biografie zeichnet nun detailreich Kindheit, Liebesleben und beruflichen Werdegang des berühmten Neurologen nach.
Als 1974 das Meisterwerk "Awakenings" des britischen Neurologen Oliver Sacks erschien, ging es auf dem Buchmarkt sang- und klanglos unter. Kaum jemand interessierte sich für Sacks‘ medizinische Fallgeschichten über das berührende Schicksal einer Handvoll Parkinson-Patienten – schon gar nicht die medizinische Fachwelt, der sein literarischer Ansatz suspekt war.
Etwa zu dieser Zeit begann sich der Journalist Lawrence Weschler für den unbekannten Arzt zu interessieren, schon damals mit der Idee, eine Biografie über ihn zu verfassen. Fast 50 Jahre später liegt nun "Oliver Sacks – Ein persönliches Porträt" vor und zeichnet ein detailreiches Bild des weltberühmten Neurologen, der 2015 an einer Krebserkrankung starb.

Beide Sammel- und Schreibwütige

Vier Jahre lang hat Weschler den Neurologen eng begleitet, anschließend waren die beiden Jahrzehnte lang befreundet. Und weil sowohl Sacks wie sein Biograf Sammel- und Schreibwütige waren, konnte Weschler einen reichen Fundus zusammentragen: Briefe, Interviews im Umfeld des Arztes, Gesprächsnotizen, Tagebuchauszüge, persönliche Erinnerungen. Alles das türmt sich zu einem wahren Biografieberg, in dem noch Menüabfolgen bei gemeinsamen Abendessen oder Kritzeleien auf Haftnotizen ihren ausführlichen Vermerk erhalten.
Nicht alle, die Oliver Sacks als Autor schätzen, werden an dieser Fülle ausschließlich Freude haben, denn fast scheint es, als hätte sich der Biograf dem ausufernden Temperament Sacks‘ ergeben. In seinem Buch verzichtet er auf jeden übergeordneten Bogen, der die vielen Elemente hätte zusammenhalten können.
Stattdessen hat sich Weschler für eine chronologische Präsentation seiner Schubladen füllenden Notizen entschlossen. Weil Sacks sein Leben lang mit denselben Problemen rang, tauchen diese auch immer wieder in der Biografie auf.
Der schreibende Mediziner war himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, fuhr liebend gern schnell Motorrad, nahm furchtbar zu und wieder ab, konnte sich zeit seines Lebens nicht mit seiner Homosexualität einverstanden erklären und wusste sich als Jude nicht zu definieren.
Er las manisch und litt unter Schreibblockaden - wie auch seiner gefühlskalten Mutter, ebenfalls eine Ärztin, die ihn schon als Teenager in den Anatomiesaal mitnahm und Kinderleichen sezieren ließ, was ein lebenslanges Trauma auslöste. Wir lesen es immer und immer wieder.

Sack modernisierte die Neurologie

Doch dann gibt es diese Passagen, in denen Weschler und Sacks in ihren Gesprächen tief in neurologische Fachgespräche eintauchen. Sie denken über John und dessen Tourettesyndrom nach und über die abgelegenen Pflegeheimstationen, auf denen die hoffnungslosen und von der Welt vergessenen Patientinnen und Patienten lebten, mit denen Sacks so gern gearbeitet hat.
Auf einmal ist man wieder nah bei dem, was diesen Arzt so berühmt gemacht hat: seiner geduldigen Liebe zu den ihm Anvertrauten, dem Ringen darum, Lebenslinien und Krankheitsgeschehen dieser Menschen auszuloten, ohne sie bloßzustellen. Nah bei dem Mann, dessen einfühlsames Schreiben ein ganzes Fach modernisiert hat.

Lawrence Weschler: "Oliver Sacks – Ein persönliches Porträt"
Übersetzung von Hainer Kober
Rowohlt, Hamburg 2021
480 Seiten, 25 Euro

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