Laufen zur Erleuchtung

Von Susanne Mack |
Ist Pilgern eine Trend-Sportart mit Wellness-Faktor? Die Dinge liegen komplizierter. Denn echtes Pilgern war schon immer die Suche nach Gottes Nähe. Über dieses Thema philosophiert auch Manfred Gerland, ein evangelischer Theologe aus Nordhessen, der Pilgern nicht als bloßen Freizeitsport, sondern als Lebenshaltung versteht.
"1517 tauchte in Ulm ein ‚Jacobsbruder’ auf, der angeblich auf dem Weg nach Santiago de Compostela war. Ein Vertrauensseliger übergab ihm ein silbernes Kästchen, das er am Grab des Heiligen Jacobus deponieren sollte. Als der ‚Pilger’ versuchte, dieses Geschenk im Ulmer Freudenhaus zu versetzen, wurde er schnell gefasst."

Wie einen echten Pilger von einem Gauner unterscheiden? Ein großes Thema für Menschen im Spätmittelalter, wie Manfred Gerland versichert. Pilgern an einen Heiligen Ort galt damals als unverzichtbar für das Heil der Christenseele, und wer sich – ob nun wegen körperlicher Gebrechen oder auch aus purer Unlust - nicht in der Lage sah, selbst auf Wanderschaft zu gehen, der nahm sich eben einen Auftragspilger.

Im 15. und 16 Jahrhundert, schreibt Gerland, war fast ein Fünftel der europäischen Christenheit pilgernd unterwegs – und das nicht nur zur Freude der "guten Hirten" in der Heimat.

Manfred Gerland: "Weil sie das als Konkurrenz betrachteten. Die Leute gingen halt 20 km weiter zu einem berühmten Wallfahrtsort und kamen natürlich nicht in den eigenen Gottesdienst. Und da hat ein Erfurter Priester fünf Vorschläge gemacht - ich hoffe, ich krieg’ sie jetzt zusammen - um der Versuchung des Pilgerns zu widerstehen! Man möge ein Kruzifix anschauen, ein Gebet sprechen, den Rat verständiger Leute einholen und möglichst rechtzeitig schlafen gehen."

Der Autor im März dieses Jahres auf der Leipziger Buchmesse. Gerlands Text ist reich an solchen Anekdoten und doch ein ernsthaftes Werk. Eine kleine, gelungene Kulturgeschichte des Pilgerns. Und eine kleine Philosophie dazu - im dritten Teil des Buches nämlich fragt Gerland nach dem Wesen dieser Form des Unterwegsseins: Was unterscheidet einen Pilger von einem Wanderer?

Gerland: "Also, ‚Pilger’ kommt vom Lateinischen ‚Peregrinus’, und heißt ‚der Fremde’. Es ist der, der sich aus religiösen Motiven dieser Welt fremd macht. Auch allen Ansprüchen, die an ihn herangetragen werden, wenigstens zeitweise sich fremd macht, um später auch wieder hineinzugehen. Also: Pilgern ist keine generelle Flucht, aber es ist eine Form der Weltfremdheit, die positiv zu bewerten ist."

"Mein Reich ist nicht von dieser Welt! Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme."

Ein Christus-Wort aus dem Johannes-Evangelium.

Gerland : "Ich kann nicht ständig präsent sein. Ich kann nicht ständig allen Anforderungen, die Familie, Gesellschaft, Beruf an mich herantragen, entsprechen, wenn ich nicht solche Rückzugsmöglichkeiten habe, wo ich bei mir bin, bei Gott bin, in einem anderen Kontext bin."

Gerland interessiert sich nicht nur für die jüdisch-christliche Pilgertradition. Das Buch handelt auch vom Haddsch nach Mekka, vom Weg, um den heiligen Berg Kailash in Tibet und von der Yatra zur Höhle von Amarnath in Kaschmir – sprich: Es geht auch um muslimische und hinduistisch-buddhistische Pilgerwege.

Gerland: "Da gibt es interessante Dinge, die bei allen Religionen gleich sind. Nämlich: Es geht immer um Energieprozesse. Also, Pilger brechen auf, weil sie neue Kraft brauchen für ihr Leben - um es zu bewältigen, um eine verworrene Situation zu verändern. Aber auch die Erfahrung der Verwandlung. Dass sich wirklich etwas verwandelt auf dem Wege oder auch am Ziel."

Offensichtlich hat Gerland dieses Buch nicht geschrieben, damit sein Leser sich mit ihm aufs Sofa legt, sich an anderer Leute Verwandlungs-Erfahrungen berauscht und es dabei bewenden lässt. Denn sein Text weckt die Lust, sich selbst auf den Weg zu machen, uralten heiligen Pfaden zu folgen, sich auf das Abenteuer Pilgern einzulassen. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – uns der Autor ein paar lebensvolle Erfahrungsberichte von seinen Pilgerreisen beschert.

Gerland: "Im Jahr 2005 bin ich von Görlitz nach Erfurt auf dem ökumenischen Pilgerweg gegangen. Schon am zweiten Tag passierte das Malheur, dass ich stolperte und der Länge nach hinschlug. Hose war zerrissen, blutete heftig am Knie, dann - naja, man rasiert sich nicht jeden Tag, man hat auch nicht jeden Tag eine Dusche. Man nähert sich also von Habit und vom Outfit sehr schnell dem eines Obdachlosen. Es gibt gewisse Gerüche, die man auch nicht verbergen kann. Ich war immer trotzdem erstaunt, dass die Leute mich so freundlich aufgenommen haben. Das lag vielleicht an meiner Muschel, die mich als Pilger ausgewiesen hat."

Für spirituelle Menschen - egal welcher Religion - hat Pilgern etwas mit Gottes-Erfahrung zu tun. Aber muss man nicht schon ein gläubiger Mensch sein, um – sagen wir – "sinnvoll zu pilgern"? Man findet Gott ja nicht zwangsläufig auf dem Weg nach Santiago de Compostela, oder?

Manfred Gerland überlegt - und sieht die Dinge so:

"Es reicht, wenn man eine Sehnsucht hat danach. Dann passieren überraschende Dinge. Dass der Weg einem was über sich selbst erzählt. Dass man manchmal in der Einsamkeit spürt: Man ist getragen, man ist geborgen - von einer Macht, die größer ist. Aber das sind alles Erfahrungen. Die fallen einem nicht in den Schoß, die muss man sich erlaufen!"

Gerland hat seinem Buch einen alttestamentlichen Psalm vorangestellt:

"Wohl den Menschen, die Dich, Gott, für ihre Stärke halten und von Herzen Dir nachwandeln!
Sie gehen von einer Kraft zur anderen
bis sie Gott finden am heiligen Berg."


Manfred Gerland: Faszination Pilgern. Eine Spurensuche
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2009
208 Seiten, 19,80 Euro