Laufen bis zum Umfallen

Ein New Yorker Anwalt leidet an einer seltenen Störung: Er muss zwanghaft laufen - und das so exzessiv, dass er Körper und Geist massiven Schaden zufügt. US-Autor Joshua Ferris ist mit der Geschichte dieses Getriebenen ein kleiner Geniestreich gelungen.
Der Mann ist nicht zu halten. Tim Farnsworth, Held von Joshua Ferris’ zweitem Roman "Ins Freie" (im Original "The Unnamed"), ist ein gutbetuchter Anwalt, Sozius einer angesehenen New Yorker Kanzlei. Er lebt mit Frau und pubertierender Tochter in einem prachtvollen Haus im Grünen und könnte sorglos die Früchte des urbanen Lebens genießen. Wenn er nicht zwanghaft laufen müsste. Bei Wind und Wetter, zu jeder Tages- und Nachtzeit, mitten im Gespräch mit einem Mandanten treibt es ihn hinaus. Meilenweit, bis er irgendwo vor Müdigkeit umkippt. Jedes Mal trägt er Blessuren davon, Erfrierungen, verliert seine Habseligkeiten, und jedes Mal muss seine Frau ihn irgendwo abholen, im Wald, auf Parkplätzen, in Bars und Friseursalons.

Umso entsetzter ist Jane Farnsworth, als sich nach vierjähriger Unterbrechung erneut ein Schub der mysteriösen Laufkrankheit ankündigt. Immerhin ist sie diesmal vorbereitet, hat Thermounterwäsche, Outdoor-Kleidung und ein GPS-Gerät für den Gatten besorgt. Doch die Belastung für die Familie ist gewaltig. Zumal niemand weiß, woher dieses tückische Leiden kommt. Farnsworth war bei unzähligen Ärzten, Spezialisten, Koryphäen ihres Fachs, doch keiner konnte eine Ursache finden, weder physischer noch psychischer Natur. Auch Wunderheiler und Esoteriker können ihm nicht helfen. Vor allem aber ist dieser neuerliche Schub schlimmer als alle vorherigen. Diesmal verliert er seinen Job, denkt an Selbstmord, will anderen nicht mehr zur Last fallen und läuft endgültig los, bis ans andere Ende von Amerika.

Eine Metapher für die Getriebenheit des urbanen Erfolgsmenschen? Er wollte, sagt Ferris in einem Interview, eine Geschichte über eine unerklärliche, nicht anerkannte Krankheit und deren Folgen für Betroffene und ihr Umfeld schreiben. Sei’s drum. Auf jeden Fall ist dem Autor allein mit der Erfindung des Leidens des Mr. Farnsworth ein kleiner Geniestreich gelungen. Die Geschichte ist großartig erzählt, mit virtuos eingesetzten Zeitsprüngen, Vor- und Rückblenden, die vom Leser viel Konzentration verlangen, damit er sich nicht in der Geografie dieses unermüdlichen Wandertriebs verliert. Doch dafür wird er durch Ferris’ in den Bann ziehende Sprachmächtigkeit und die Dynamik von dessen Erzählkunst, reichlich belohnt.

Vor allem im vierten und letzten Teil des Buches, wenn der Autor die Kapitelstruktur aufbricht, nachdem Farnsworth den Kampf gegen den namenlosen Feind in seinem Leib, der ihn immer weiter vorantreibt, vermeintlich gewonnen, aber immer noch nicht die Kontrolle über seine wanderwilligen Beine erlangt hat. Wie im Wahn, ohne sich um die Schmerzen zu scheren, die immer schwereren Verletzungen, die er sich auf seinem endlosen Marsch zuzieht, torkelt er durch die Überschwemmungsgebiete des Mississippi, durch abgebrannte Wälder, an endlosen Highways entlang.

Der Roman, der anfängt wie eine der Geschichten aus den Vororthöllen mit ihren Häuschen im Grünen, wie sie Richard Yates so trefflich zu erzählen wusste, wird nun zu einem Werk, das mit seiner grandiosen Grausamkeit auch von Cormac McCarthy stammen könnte. Oder Samuel Beckett, dessen "Der Namenlose" nicht nur beim Titel des Originals Pate gestanden haben könnte. Denn hier geht es um die großen und letzten Dinge, um Leben und Tod, Liebe und Leid, den Glauben und die Suche nach Frieden.

Besprochen von Georg Schmidt

Joshua Ferris: Ins Freie
Übersetzt von Marcus Ingendaay
Luchterhand Literaturverlag, 352 Seiten, 19.99 Euro

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