Latchinian: Gefahr im Osten nicht größer als anderswo

Moderation: Dieter Kassel |
Die Warnung des früheren Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye an dunkelhäutige WM-Besucher, bestimmte ostdeutsche Gegenden nicht aufzusuchen, ist nach Ansicht des Theater-Intendanten im brandenburgischen Senftenberg, Sewan Latchinian, übertrieben und falsch. Die latente Feindschaft gegenüber dem Anderen sei ein Menschenproblem, sagte Latchinian.
Kassel: Senftenberg ist eine kleine Stadt im Süden Brandenburgs, eine Stadt mit knapp 25.000 Einwohnern. Und zu den Besonderheiten von Senftenberg gehört das örtliche Theater. Unter der Leitung von Intendant Sewan Latchinian wurde die Neue Bühne Senftenberg unter anderem auch zum Theater des Jahres gewählt, gleichzeitig mit größeren und berühmten Häusern aus München, aus Berlin und aus Hamburg. Die Stadt Senftenberg aber fällt in die Kategorie der Orte, die angeblich für Menschen mit nichtdeutschem Aussehen lebensgefährlich sein können. Der ehemalige Regierungssprecher und Mitgründer des Vereins "Gesicht zeigen! Aktion weltoffenes Deutschland", Uwe-Karsten Heye, ist vorgestern hier im Deutschlandradio Kultur gefragt worden,ob die Ausländerfeindlichkeit in Berlin und in Teilen Brandenburgs inzwischen so groß ist, dass es Orte gibt, die ausländische Besucher während der Fußballweltmeisterschaft nicht betreten sollten, und er hat Folgendes geantwortet:

"Die Bereitschaft, wegzusehen, hat zugenommen. Und damit macht man es den Tätern leichter. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir, was die Politik angeht, endlich aufhören müssen, diese Vorgänge zu bagatellisieren. Ich glaube, es gibt kleinere und mittlere Städte in Brandenburg und auch anderswo, wo ich keinem raten würde, der eine andere Hautfarbe hat, hinzugehen - er würde es möglicherweise lebend nicht wieder verlassen."

Soweit der ehemalige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye vorgestern in unserem Programm. Am Telefon begrüße ich jetzt Sewan Latchinian. Er wurde 1961 in Leipzig geboren, arbeitete zunächst unter anderem auch als Schauspieler an verschiedenen Bühnen, unter anderem in Berlin, war ab 1997 Oberspielleiter am Rheinischen Landestheater in Neuss und ist seit der Spielzeit 2004/2005 der Intendant der Neuen Bühne Senftenberg. Schönen guten Tag, Herr Latchinian.

Latchinian: Guten Tag!

Kassel: Das, was Uwe-Karsten Heye gerade gesagt hat - im Prinzip fällt ja Senftenberg in diese Kategorie, kleinere bis mittelgroße Stadt in Brandenburg -, trifft das, was er gesagt hat, auf Senftenberg zu?

Latchinian: Nein. Das kann ich besten Gewissens sagen, das trifft auf keinen Fall zu. Es ist einfach so, dass es sehr übertrieben ist und dass es mich schon auch ein Stück weit empört.

Kassel: Können Sie denn guten Gewissens einem Menschen, der eine dunkle Hautfarbe hat, der fremdländisch aussieht, sagen: Besuch mich ruhig in Senftenberg, guck dir ein Theaterstück an oder was auch immer und du kannst da auch nachts überall hingehen?

Latchinian: Also eine gewisse Normalität tagsüber kann erst mal, Gott sei Dank, festgehalten werden. Also da denke ich, sind diese Äußerungen völlig falsch. Sie haben Recht, wenn die Dunkelheit einbricht, dann kann es sein, dass - aber das ist, glaube ich, in jeder Stadt der Welt so -, dass an irgendeinem Ort am Rande der Stadt oder in irgendeiner Seitengasse es zu einem Exzess kommen kann, der einfach nur verwerflich und dumm ist, aber den auch wir Humanisten dann nicht ausschließen können. Aber grundsätzlich kann ich das vielen Ausländern empfehlen - und empfehle es nicht nur, sondern lebe es auch tagtäglich.

Kassel: Ist dann Senftenberg, aus welchen Gründen auch immer, eine Ausnahme in Brandenburg oder vielleicht überhaupt in den neuen Bundesländern?

Latchinian: Nein. Also als Theater, das ja nicht nur das Theater Senftenbergs ist, sondern zum Beispiel das Theater des ganzen Oberspreewald-Lausitz-Kreises, kommen wir viel rum, wir haben sehr viele Gastspiele. Ich selbst bin ja im Grunde auch vom Namen her und auch äußerlich nicht unbedingt der urdeutsche Typ, habe noch nie in den zwei Jahren, in denen ich mich hier bewege, auch nur einen Ansatz von Ausländerfeindlichkeit, Rassismus oder Bösartigkeit dem anderen gegenüber erlebt.

Kassel: Ich habe das erlebt in Brandenburg und ich sehe im Vergleich zu Ihnen noch viel normaler und noch viel deutscher aus …

Latchinian: Tja.

Kassel: … und ich bin nicht erschlagen worden, aber ich habe durchaus entsprechende Erlebnisse gehabt. Ist das nicht ein bisschen dann auch das, was Uwe-Karsten Heye auch gesagt hat, ein bisschen auch das Weggucken und das so tun, als sei das alles ganz weit weg und eben nicht um die Ecke?

Latchinian: Also, ich bin überzeugt, dass nicht die Bereitschaft zum Weggucken zugenommen hat, sondern die Bereitschaft zum Hingucken und auch zum Eingreifen. Denn das ist in letzter Zeit so viel thematisiert worden, dass, denke ich, auch ein Bewusstsein differenziert worden ist solchen Aktivitäten gegenüber. Und der Begriff "Zivilcourage" ist, glaube ich, vielen Menschen in seiner Wichtigkeit klarer geworden. Ich will diese ganzen Bemerkungen von Uwe-Karsten Heye nun meinerseits auch nicht bagatellisieren. Es ist natürlich an jedem Vorurteil immer auch was dran. Und an jedem Klischee ist etwas dran, sonst wäre es keins. Aber das Gegenteil eines Fehlers ist eben oft auch ein Fehler. Und ich würde empfehlen, nicht zu dramatisieren. Also bagatellisieren ist falsch, aber dramatisieren ist genauso schädlich, denn es kann die Geister, die wir bannen wollen, erst recht herbeirufen.

Kassel: Aber ist nicht im Moment doch auch ein gewisser Zeitdruck gegeben? Gerade dieses Gespräch mit Uwe-Karsten Heye - von dem wir uns jetzt auch gerne langsam entfernen können, aber lassen Sie mich noch einen Moment dabei bleiben. Da war ja die Frage auch nicht: Wie ist die Lage allgemein, wie wird sie sich über Jahre entwickeln? Da geht es ja nun um das Problem Fußballweltmeisterschaft. Da werden sehr viele Menschen unter anderem auch nach Berlin und damit möglicherweise auch nach Brandenburg kommen, die eben sehr undeutsch aussehen, es sind auch keine Deutschen. Da gibt es nun Empfehlungen, die ausgearbeitet werden von afrikanischen Staaten, wo diese Leute lieber nicht hingehen sollten. Da gibt es inzwischen Reiseführer aus den USA, die vor gewissen Stadtteilen auch Berlins und Gegenden Brandenburgs und anderer Bundesländer warnen. Da gibt es einen kleinen Ort in der Nähe von Falkensee, da sollte eigentlich ein Camp aufgebaut werden für 4000 Fußballfans aus aller Welt, die da Fußball gucken können. Das Camp wird es nicht geben, weil die Einwohner das dort nicht wollten. Kann man da nicht sagen, jetzt kurz vor der Fußballweltmeisterschaft müssen wir der Welt sagen: So ganz "zu Gast bei Freunden" sind sie dann doch nicht?

Latchinian: Ich denke, dass die Barbarei - und das sagt Ihnen einer, der tagtäglich um die Kultur ringt -, dass die Barbarei natürlich die Grundbasis unseres Lebens ist, und die ist selbstverständlicher als die Kultur. Insofern, natürlich, überall, wo größere Massen sind, sinkt auch der Intelligenzquotient und ist die Gefahr von Eigendynamik im Sinne von Rüpelhaftigkeit und Aggressionen zu befürchten. Das ist klar. Aber ich denke, das ist kein Phänomen Ostdeutschlands oder Brandenburgs. Ich selbst hatte mal Dreharbeiten in Vietnam. Ich bin da auch durch ein Randgebiet von Hanoi gelaufen. Also ich denke, die Angst, die ich da empfunden habe, kann ähnlich der empfunden werden, wie die Warnungen, dass gewisse dunkelhäutige Gäste der Fußballweltmeisterschaft sich nicht in jedes Städtchen, in die Randgebiete trauen sollten. Aber das ist ein globales Problem, das ist ein Menschenproblem, das ist diese latente Feindschaft gegenüber dem anderen. Aber das hat nichts mit Brandenburg zu tun.

Kassel: Aber wenn man sich nun Statistiken anschaut, sowohl offizielle als auch die von Menschenrechtsorganisationen, von antifaschistischen Organisationen in Deutschland, ich meine, das sind ja nun Zahlen, wo keiner sagt: Ihr lügt, Ihr habt da die falsche Strichliste geführt. Dann gibt es nun mal mehr fremdenfeindlich motivierte Straftaten in den neuen Bundesländern als zum Beispiel in Hessen oder als irgendwo sonst. Sagt uns das alles nichts?

Latchinian: Ja, das hat sicher was damit zu tun, dass die sozialen Widersprüche im Moment im Osten größer sind als im Westen. Aber ich traue keiner Statistik, weil Statistiken können täuschen, weil die Quote einfach abweichen kann von der Normalität. Je mehr man forscht, umso mehr wird man finden. Und ich denke, dass die Statistiker momentan besonders im Osten unterwegs sind und deswegen auch besonders zahlreiche Treffer landen. Aber ich kann einfach die Statistiken selber, gefühlt nicht bestätigen. Das ist ja auch schon mal was.

Kassel: Dann nehmen wir jetzt doch einfach einen Vergleich, der uns von Vietnam wieder nach Deutschland bringt, aus Ihrer Lebenswelt. Ich habe es ja erwähnt, Sie waren ja einige Jahre lang der Oberspielleiter am Rheinischen Landestheater in Neuss, also mitten in Nordrhein-Westfalen, auf der anderen Seite von Düsseldorf. Hatten Sie denn in Ihrer Zeit in Neuss das Gefühl, die latent ja doch - Sie haben es zugegeben - immer denkbare Ausländerfeindlichkeit ist da völlig genauso wie in Senftenberg?

Latchinian: Auch dort hat es am Rande des Schützenfestes auch Ausschreitungen gegen anders aussehende Menschen gegeben. Rangeleien, Prügeleien. Wo ich aber nicht weiß, ob die nicht - wie Sie selbst vorhin gesagt haben -, nicht auch passiert wären, wenn diese Menschen eine weiße Hautfarbe gehabt hätten. Denn die Rangeleien und Aggressionen unter Weißhäutigen zählen dann in den Statistiken nicht mit, müssten aber bei Rangeleien weltweit gezählt werden. Also ich will auch diesem Vorurteil, dass Ostdeutschland irgendwie eine Region ist, die Schwierigkeiten hat seit der Wende mit der Internationalität, nicht so einfach im Raum stehen lassen. Ich weiß selber, dass ich als kleiner Junge in Leipzig die Straßenbahn geteilt habe mit Unmengen von Vietnamesen, Mosambikanern, Äthiopiern und mir sind fremde Menschen von Kindheit an begegnet. Denn auch die DDR war nicht so eingemauert, dass es da nicht aus jeder Rasse viele Menschen gegeben hätte, die da studieren oder lernen.

Kassel: Aber besteht nicht die Gefahr - ich verstehe sehr gut, was Sie sagen und ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Sie es auch nicht gerne sehen, wenn die neuen Bundesländer oder gar Brandenburg im Speziellen stigmatisiert sind als irgendwie das rechte Gebiet und die "national befreite Zone", das ist alles nachvollziehbar -, aber besteht nicht die Gefahr, wenn Sie genauso wie viele andere auch sagen: "Was der Heye gesagt hat, kann man so nicht sagen, es ist schlicht nicht wahr, es ist zu stark zugespitzt", dass man aber das Ganze auch mit einem Tabu belegt? Denn man kann doch ein Problem nicht lösen, wenn man behauptet: So richtig ist das Problem gar nicht da.

Latchinian: Da stimme ich Ihnen voll zu. Also eine differenzierte Sicht ist ganz wichtig. Und ich sagte, es ist nicht gut zu bagatellisieren, es ist aber auch nicht gut, zu dramatisieren. Ich finde es wichtig zu differenzieren. Und leider hat Uwe-Karsten Heye ein sehr pauschales, sehr absolutes, vielleicht auch provozieren sollendes Urteil abgegeben, und das darf so auch nicht stehen bleiben.

Kassel: Was es auch nicht tat. Wir müssen der Fairness halber dazusagen, dass Herr Heye das alles ja bereits relativiert hat und die Debatte weitergeht. Was ganz Konkretes zum Schluss: Es sind jetzt nicht mehr so, so viele Tage bis die Fußballweltmeisterschaft beginnt - wir können uns sicherlich darauf einigen, welche Probleme es auch immer wirklich gibt mit Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, die wird man in diesen paar Tagen nicht mehr lösen können -, ist denn eine Liste, wer auch immer sie verfasst, wo wirklich drinsteht, nur aus Vorsicht, aus Vernunft sollten Menschen, die nichtdeutsch aussehen, dort und dort nicht hingehen, so eine Liste zwar leicht geschmacklos, aber trotzdem sinnvoll?

Latchinian: Ich glaube, die ist nicht sinnvoll.

Kassel: Warum nicht?

Latchinian: Weil sie nicht stimmen kann. Die menschliche Realität ist so differenziert, das halte ich einfach für Quatsch. Ich halte einen Hinweis, man soll aufpassen, dass man nicht in die Vorortbezirke einer Stadt geht und nicht unbedingt nachts in kleinste Orte, den Hinweis halte ich immer für richtig, den sage ich auch meinen Kindern immer sozusagen, dass das Zeiten und Gegenden sind, die immer etwas riskanter sind. Aber das hat nichts mit Fußballweltmeisterschaft, nichts mit Ostdeutschland, nichts mit Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit zu tun, sondern das ist einfach eine Lebenserfahrung.

Kassel: Sewan Latchinian, der Intendant des Theaters in Senftenberg, in Brandenburg, im Gespräch im Deutschlandradio Kultur.
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