Lassan, ich komme!

Die kleine Stadt am Peenestrom

Eine Luftaufnahme zeigt den Yachthafen der Kleinstadt Lassan am Peenestrom.
Eine Luftaufnahme zeigt den Yachthafen der Kleinstadt Lassan am Peenestrom. © picture alliance / Karlheinz Schindler
Von Margarete Groschupf · 29.05.2016
Sie ist die kleinste Stadt in Mecklenburg-Vorpommern und gleichzeitig ein Knotenpunkt extremer Soziotope. Künstlerisch, kreativ und tolerant: Alte Männer sitzen sonntags auf der Bank beim Hafen und erzählen sich dreckige Witze. Die Malerin Ulrike Seidenschnur eröffnet jeden Sommer eine große Kunstausstellung in der mittelalterlichen Backsteinkirche und lässt sie von Einheimischen betreuen.
Die gebürtige Lassanerin Inge Krug, die nach Hamburg auswanderte, kam wieder zurück und renoviert nun ein denkmalgeschütztes Haus nach dem anderen.

Umgeben von einer Moränenlandschaft liegt im Hinterland der Ostsee ein ruhiger Winkel am Peenestrom, den Blick auf Usedom gerichtet, aber nicht von der Touristen-Hochburg betroffen: der Lassaner Winkel, benannt nach der Stadt in seiner Mitte. Einer alten Stadt mit schmalen, granitgepflasterten Straßen und geschnitzten Haustüren. Am Markt gibt es seit einem Jahr die Lassaneria, einen Bio-Imbiss, wo vegan gegessen wird und wo Simone Schäfer Ernährungs- und Lebenskunde lehrt.
Straße im Zentrum von Lassan. 
Straße im Zentrum von Lassan. © Deutschlandradio / Margarete Groschupf
Die Ostsee von Lassan aus gesehen. 
Die Ostsee von Lassan aus gesehen. © Deutschlandradio / Margarete Groschupf
Der Lassaner Winkel - ein Ort für wirtschaftlich denkende Idealisten und für Einheimische, die mitmachen? Die "Deutschlandrundfahrt" unterwegs in eine Gegend, wo die Zeit anders zu gehen scheint.
Die Landschaft um Lassan. 
Die Landschaft um Lassan. © Deutschlandradio / Margarete Groschupf

Mein Sohn und ich wurden vom Parkplatz aus geradeaus geschickt, dort kämen wir genau zur Kirche. Wir waren in der Kirche verabredet, eine Ausstellung sollte dort eröffnet werden zum 100. Geburtstag der Weberin Minka Zimmermann. Also die Kirche, ein frühgotischer Backsteinbau, den werden wir ja wohl nicht übersehen. Es war heiß, wir schleppten uns voran, mein Sohn hatte schlechte Laune. Es war keine Stadt, in die ein Jugendlicher sonst gefahren wäre, das sah ich ein, sein Entsetzen steigerte sich von Haus zu Haus. Mir erschienen die vielen leeren, blinden Schaufenster eher faszinierend, bizarr, ich hatte Moos an alten Fenstern mit dem Makro-Objektiv auf Rügen fotografiert. Es war eine lange Straße, die kein Ende nahm, ein Haus reihte sich an das andere, es gab keinen Baum, es gab auch so gut wie keine Menschen auf der Straße.
Eine Autowerkstatt hatten sie und einen Bäcker, mein Sohn machte sich Sorgen, was in Leuten vorgeht, die hier aufwachsen, die hier leben, wissen die überhaupt etwas vom Rest der Welt?
Die Menschen, die wir in der Kirche treffen wollten, waren noch mit dem Aufbau der Ausstellung beschäftigt, wir sollten auf dem Marktplatz warten. Noch ein paar Schritte weiter, die Straße schlängelte sich gleichmütig voran, Kopfsteinplaster, bauschig wehende Gardinen, wir passierten einen Friedhof, die mittelalterliche Backsteinkirche stand auf einem Erdsockel, davor eine Mauer, wir fanden den Marktplatz, dort gab es Bänke. Müde Menschen setzen sich auf Bänke, dafür sind sie da. Aber mir gefiel es nicht auf diesem Marktplatz. Ich rutschte in der Leere ab, ich hatte nur ein mürrisches Kind neben mir.

Ein alter Mann redete - und mein Sohn war entzückt vom Geschichtsunterricht

Den Mann, der auf uns zukam, hatte ich schon vor der Kirche gesehen, er lief schräg über die Wiese, blieb vor uns stehen. Er war weit über siebzig, hatte wenige Zähne im Mund und fragte, was wir hier machen? Es war keine Frage nach Geld, er blickte mir klar in die Augen. Über die Ausstellungseröffnung am nächsten Abend wusste er Bescheid. Offenbar hatte er schon immer in Lassan gelebt, er kannte hier alles, und er würde meinem Sohn die fürchterliche Frage beantworten, ob die Menschen hier zwangsläufig verblödeten. Ich war ja froh, dass jemand redete. Er hielt die Arme schräg in den Himmel und breitete sein ganzes Leben vor uns aus, wie er nach Russland musste, wie er dort Fisch kochte in einem großen Schloss, wie er später zurück kam und das Mädchen in Lassan heiratete, das er vor dem Krieg schon gekannt hatte. Mein Sohn erlebte zum ersten Mal, was Geschichtsunterricht sein könnte, ging mit jedem Wort entzückt mit - und natürlich bekam ich Vorwürfe, dass ich mal wieder so hektisch war und los wollte.
Und dann kamen wir in eine Ferienwohnung, die einen Kamin hatte, terracotta Lehm-verschlemmte Wände und minimalistische Zweige in einer Vase. Die Gegenwart zeigte sich von ihrer ökologischen, ästhetischen Seite. Wir lebten elegant und gesellig. Ich lernte die Malerin Ulrike Seidenschnur kennen, in der Kirche stand sie in ihrer Funktion als Kuratorin und eröffnete die Ausstellung in wehenden weinroten Kleidern, einen dicken dunkelroten Haarknoten oben auf dem Kopf:
"Ich funktioniere auf verschiedenen Ebenen. Hier hängt schon sehr mein Herzblut dran, an den Tätigkeiten, die ich hier mache für die Galerie, für den Winkel, für die Stadt. Und in Berlin, da lebt ja meine Familie auch, ich bin ja Berlinerin. Aber dadurch, dass mein Vater diese Affinität zu dieser Gegend hatte und diese Sehnsucht ich als Kind schon empfinden konnte, hatte ich ja schon immer einen Bezug. Und meine damalige Frau Schwarz, die eben bei uns wohnte, fragte mich immer: 'Ja, was wollen Sie bloß hier, was wollen Sie hier?' Sie konnte das nicht verstehen, dass man gerne hier her möchte.
Das war eigentlich ein glücklicher Zufall, dass wir dieses Haus erwerben konnten. Das stand einfach in der Berliner Morgenpost als Fischerhaus zu verkaufen, dann war ich neugierig. Und dann haben uns die Besitzer des Hauses den Schlüssel gegeben und gesagt: Ja fahren Se doch einfach hoch und gucken se sich das mal an, und dann sagen se uns Bescheid.
1990 sind wir hier lang gefahren, und 91 haben wir das Haus gekauft. Das konnten wir uns leisten, weil es war ja eigentlich eine bewohnte Ruine. Und es gab ja nichts, noch nicht mal ein Klo, weil das Pumpsklo brach zusammen mit dem Tag unserer Ankunft. Und die Dame, die damals im Haus noch wohnte, hat Wasser in der Badewanne gesammelt, um die Klospülung zu bedienen.
Uns hat der Ort total gut gefallen. Es fuhr hier ab und zu mal ein Trabi vorbei oder mal ein Trecker, und es war so ein bisschen wie ganz früher. Es war noch alles sehr ursprünglich. Die Straße war eine einzige Katastrophe. Freunde von uns fuhren sich sofort den Auspuff ab beim ersten Besuch im Schlagloch. Aber wir hatten die Hoffnung, wir können unser Haus aufbauen, und so lassen sich alle anderen Häuser eigentlich auch renovieren. Das ist ja tatsächlich auch so eingetreten. Wenn man sich jetzt umguckt, ist ja schon sehr viel in den 25 Jahren entstanden an Sanierung und an schönen Fassaden, an Fenstern. Gott sei Dank sind die Türen alle noch drin, fast alle, die schönen Holztüren, wofür ja Lassan auch berühmt ist. Man könnte sozusagen fast 100 Jahre ausblenden.
Ich wollte gerne ein Haus haben, was zu einem Ort gehört, der eine gewisse Infrastruktur hat, und Lassan hat all das zu bieten. Es gibt hier Geschäfte, Ärzte, Apotheke, es gibt sogar Blumenläden. Damals gab es noch viel mehr Geschäfte, es gab noch einen Schuhladen. Die Bäckerei gibt es. Man ist hier eigentlich gut aufgehoben auch ohne Auto. Dass ich einfach Nachbarn habe, mit denen ich gerne mal über'n Zaun schnacke oder dass ich wie vorhin auf dem Markt bin und jemanden treffe, den ich kenne, das finde ich schön."

Die Lassaner Kirche ist ausgestattet mit Werken von Elias Keßler

Das hört sich an nach einem sinnlichen, abgerundeten Leben, nach einer Utopie von altmodischer Balance und Gesundheit. Die gute alte Zeit - seit 1992 führt Ulrike Seidenschnur ein geteiltes Leben zwischen Berlin im Winter und den Sommern in Lassan.
"Das ist schon mal das Überraschende, dass die Kirche ja sehr groß ist für so eine kleine Stadt. Und dass sie offen ist! Sie ist ja sehr schön ausgestattet mit barocken Sachen von Elias Keßler. Menschen gehen in eine Kirche, die sonst vielleicht nicht in eine Ausstellung gehen, - die Leute, die in eine Ausstellung gehen, gehen auch in eine Kirche. Und dieses Spirituelle, was man natürlich gerne in einer Kirche auch sich wünscht: man kann sich einfach da hinein setzen und inmitten dieser Bilder meditieren, zur Besinnung kommen, vor allem zur Ruhe kommen. Die Räume verändern sich auch immer mit den Exponaten, man erlebt die Kirche dann auch jedes Jahr ein bisschen neu."
Wir sitzen in einem niedrigen Kirchenschiff. Mein Blick gleitet an den roten Streben entlang, die die Decke und die seitlichen Kreuzgänge graziös untergliedern. Die Wände sind weiß gekalkt, das ergibt ein klares sauberes Bild. Da heben sich die barocke Kanzel und ein Lesepult entschieden ab.
Über die Decke des Chorraumes schwimmen blaue Medaillons, auf die nachdenkliche alte Männer gemalt sind, wahrscheinlich Evangelisten. Seitlich aber, die Kirche hat eben auch eine moderne Tradition, hängt ein großer Wandteppich der Bauhaus- Weberin Else Mögelin aus den 30ger Jahren: zwei Frauen halten Spindeln, eine dritte schneidet den Faden durch, Figuren aus der nordischen Mythologie: sie spinnen und schneiden den Lebensfaden jedes Menschen.
Ulrike Seidenschnur: "Es ist immer ganz wichtig, dass Menschen aus der Gemeinde das mit unterstützen. Natürlich profitiert die Galerie davon, dass jemand die Kirche offen hält. Wenn die Menschen am Hafen ankommen, ist ja die Kirche als Wahrzeichen gut zu sehen, bis zur Kirche kommen sie alle. Es ist ganz wichtig, dass jemand da ist, der ein Ansprechpartner ist und der auch ein bisschen sagen kann, was es alles hier zu erleben gibt im Lassaner Winkel. Es ist ja nicht nur die kleine Stadt, es ist ja die ganze Landschaft hier drumherum mit den kleinen Dörfern. Und auf den Dörfern ist ja ganz viel los. Das ist ganz erstaunlich, dass diese Ecke sehr lebendig ist. Man denkt ja erst, es ist alles hier so ein verschlafenes Nest, und Fuchs und Hase sagen sich hier gute Nacht, aber zumindest ab Mai ist es überhaupt nicht so!
Hier ist viel mehr Struktur im Ort, und das tut mir selber auch gut. Gewisse Arbeitsabläufe oder eben 'ne Mittagspause oder freitags ab eins macht jeder seins. Das sind so Sachen, die man als Berliner nicht mehr kennt, weil die Stadt rund um die Uhr geöffnet ist. Und das hat schon seinen Sinn, dass man auch wirklich ein Wochenende."

Lassan besteht im Wesentlichen aus zwei langen Straßen

Im Wesentlichen sind es zwei lange Straßen zum Lassaner Hafen runter und einige Nebenachsen. Alte Männer stehen auf der Straße und plaudern, einer hält seinen Kopf aus dem Fenster, eine Traube steht davor, es sieht aus wie in Portugal. Am Hafen treffen sie sich, auf Bänken am Marktplatz sitzen sie:
"Wir haben eine schöne Kirche und wir haben auch ein schönes Museum. Die Mühle wollen wir wieder gangbar machen, da ist der Graben, und da kommt auch noch ein Rad wieder ran, so wie es früher war. Dies ist die kleinste Stadt von Mecklenburg-Vorpommern!
"1200 Einwohner und paar Spitzbuben!"
"Ist vieles gemacht worden, Straße und alles, Straße haben sie neu gemacht und die Anwohner mussten mitbezahlen! "
"Noch ein Fischer! Lassan besteht aus Fischern und Spitzbuben! (Lachen)
"Wir sind alles zusammen."
Sie werden im Ort "die Könige" genannt, eine feste Gruppe von alten Männern, die sich auf der Bank vor dem Rathaus trifft, jeden Tag. Es blödelt sich entspannt hin und her, das entspannt Hirn und Herz. Ich fragte einen, ob er 300 Jahre alt sei, er war aber 80, so ungefähr jedenfalls:
"Wir sitzen nachmittags immer hier auf der Bank. Anderthalb Stunden von halb dreie bis dreiviertel vier. Da wird alles zu Hause fallen gelassen. Dann wird die Mütz aufgesetzt und dann geht es los. Das sind bald 20 Jahre her, da sind schon viele von uns gegangen. Da kamen auch viele mit so'nem Wagen, die haben sich dann hierhin gesetzt. Und welche stehen dann, die stützen sich dann ab."
"Immer hier auf der Bank und dann wird alles geklönt, was alles passiert ist."
"Und die Frauen haben auch ihre Stunde."
"Ich war früher in der Schule der dämlichste und habe keinen Beruf gelernt. Nu musste ich beim Bauern arbeiten. Nun haben wir allerhand gemacht und dann mussten wir aufs Feld. Und nun kam ein Gewitter hoch, und das holt uns ein. Und da schlägt der Blitz neben dem Bauern ein. Und da sagt der Bauer: 'Na?' Und geht ein Ende weiter und da schlägt der zweite Blitz vor dem Bauern ein. Und da sagt der Bauer wieder: 'Na?' Und der dritte Blitz erschlägt die Bauersfrau. Und da sagt der Bauer wieder: 'Na, endlich!'"

"Wenn man hier geboren ist, will man auch nicht weg hier"

Urlaubsgäste, die mit dem Fahrrad die Küste erkunden, haben ihn kennengelernt und mir vermittelt, wir treffen uns an einer Straßenecke und gehen zusammen zu einem Hafen, der ihm gehört. Dort setzen wir uns ans Wasser. Er ist 65 Jahre alt, der Mann ohne Namen:
"Heute Morgen war die See wie ein Spiegel, so blank.
Man ist nicht so hingehängt, ne. So ist das hier ganz schön schon. Ich bleib hier, ich könnte nirgendwo woanders hin. Da, wo die Kaufhalle ist, da habe ich gewohnt. Ich bin hier geboren, bin hier in die Schule gegangen, bis zur 8.Klasse, manche Leute machen weiter, ich denke, 8. reicht. Mein Vater war gestorben nachher, da musste ich mit auf den Acker. 14 Jahre, die Kartoffeln, das Korn, ging nicht anders.
Ach, hier macht das schon Spaß. Beziehen Sie sich doch ne Wohnung hier, hier gibt es Wohnungen! Das lässt sich alles machen.
Wenn man hier geboren ist, will man auch nicht weg hier. Hier hat man seine Ruhe noch, ich kenne jeden Baum, jeden Strauch.
Ich war Kraftfahrer, habe in Anklam gearbeitet, habe 35 Jahre LKW gefahren. Dann wurde ich arbeitslos. Und jetzt bin ich Rentner und jetzt kann ich mir noch was dazu verdienen.
Dies sind nämlich eigentlich zwei Angelhafen, Süd und Ost, dann hat sich das angeboten, dann habe ich den aufgebaut. Dann wurde die Straße gebaut, Erde und alles, habe ich hier her gefahren."
Da ist eine Mischung aus Geborgenheit und Melancholie - er ist einer von denen, für die die Stadt selbst Familie ist.
Männer auf der Bank:
"Da war mal hier ein Altenheim. Und da war auch so 'ne Bank hier. Und da saßen zwei auf der Bank und haben den Kopf so hängen gelassen. Und da kommt ein Dritter dazu, der war neu. Und um was zu sagen, da sagt der eine von den Älteren: 'Ja'. Und der andere sagt: 'Ja, ja.' Und der dritte sagt, muss ja auch was sagen: 'Ja, ja, ja.' Und da stehen die beiden auf und sagen: 'Komm, der spricht uns zu viel.'
Ich bin dumm geboren, nichts dazugelernt und das auch wieder vergessen.
Das ist weiter nicht schlimm, hier treffen sich nur Doofe, weiter kommt hier keiner. Den Stich habe ich schon lange, kommt die Sonne noch dazu, dann haben wir wieder Sonnenstich. Den Humor dürfen wir nicht verlieren, dann haben wir verspielt."

Der Duft- und Tastgarten ist ein botanisches Experiment

Der Duft- und Tastgarten lädt ein zum großen Sommerfest. Von allen Dörfern aus weisen Schilder auf diese Besonderheit hin: an einem See liegt das botanische Experiment, besonders für Kinder. Wege sind mit Borkenrinde ausgelegt zum Barfuß-Laufen, viele Kräuter werden angepflanzt. An diesem Tag gibt es Musik und Bio-Imbiss.
Ich erkenne sie sofort, eine schmale, aufrechte Königin, Christine Simon, die im Nachbardorf von Lassan, Klein-Jasedow, zu den Gründerinnen gehört. Sie trägt einen langen Rock und offenes graues Haar über die Schultern. Es wird schwierig, sich zu verabreden, denn sie hat einen vollen Terminkalender. Aber schließlich darf ich zu ihr kommen. Zu Beginn des Gesprächs legt sie sich auf den Rücken vor mich hin, wieder an einem See, und erzählt dann die Gründungsgeschichte der "Europäischen Akademie der Heilenden Künste":
"Es war hier eine große Tristesse, das Dorf war halb leer, in den Häusern, in denen wir jetzt leben, waren Alkoholiker, wir haben dann 2000 Schnapsflaschen um unser Haus erstmal gesammelt, hier bei dem Haus lebte eine sehr liebe Frau, die hatte das Messy-Syndrom. Das war so bis oben hin mit Müll. Und trotz all dieser Zustände und des vielen Mülls, der hier war, war das zumindest für mich und einige andere so eine Art Liebe auf den ersten Blick.
Wir 4 sind Musiker, ich habe damals andere Musiker gesucht und bin auf die gestoßen. Und darum sagen wir immer: "Ohne die Musik wären wir nicht zusammen."
Und das hat uns im Grunde bis heute getragen. Auch im weitesten Sinn, auch das mit dem Sich-gegenseitig-zuhören, auf das Leben hören, die Natur hören, auf den Ort hören, im weitesten Sinn.
Wir hatten alle schon Musik studiert - Dozentur, Stadtwohnung, Freundeskreis, den Anfang davon hatten wir schon erlebt. Unser Wunsch war, zusammen zu leben, eine Gemeinschaft zu gründen, unsere Kinder gemeinsam zu erziehen, einen Garten zu haben, aus dem wir dann auch leben würden, jedenfalls zum Teil, und ein Ensemble miteinander zu gründen. Damals noch für alte Musik, später entwickelte sich das zur neuen Musik.
Das Leben hier fordert unglaublich stark heraus, hat mich vor lauter Aufgaben gestellt, die ich nie erahnt hätte. Und all dieses, was ich dann getan habe, habe ich nie gelernt. Ich habe das einfach getan, weil es notwendig war. Und daran merke ich, wenn man etwas tut, was notwendig ist und mit ganzem Herzen dahinter steht, dann kann man das auch, auch wenn es ganz schwierig erscheint. Es ist so ein bisschen wie in diesem Märchen, so kam ich mir oft vor, von dieser Frau, es ist ein junges Mädchen eigentlich in dem Märchen, was Stroh zu Gold spinnt. Und sie hat nur eine Nacht Zeit! Und in der Situation war ich oft! Stroh zu Gold spinnen, so war das hier! Das geht schon, das ist eine Herzenssache.
Bis vor kurzem waren wir ständig vom wirtschaftlichen Absturz bedroht. Wie oft habe ich hier in den letzten 18 Jahren irgendwelche Notrufe in die Welt hinaus telefoniert! "Wir sind kurz vorm Untergehen, kann uns jemand 5000Euro leihen?"
Und bis jetzt haben wir das immer wieder zurückgegeben. Und das auch immer geschafft. Wie Sie sehen, sind wir noch am Leben hier. Das war uns auch gerade beim Klanghaus ein Anliegen, wo wir hier Studiengänge machen, eine der Musiktherapie nahe Richtung: wir wollten, dass das professionell daher kommt, schön aussieht, und diese Ordnung, die wir da immer halten, die, haben wir gemerkt, die macht eine bestimmte Atmosphäre! Auch der Schönheit und der Stille. Wenn überall immer Zeugs rumliegt, dann ist diese Stille nicht da, ja."
Die alten Männer auf der Bank bilden die Konstante im Ort. Die Witze gehen ihnen nicht aus. Und mit der Kleidung bekunden sie Identität:
"Ja, klar, er war früher bei de weißen Mäuse. Verkehrspolizei auf dem Wasser. Und auf Land. Überall. Ab 1. Mai trägt jeder Seemann eine weiße Mütze, das ist Tradition gewesen. In der Marine ist das auch so: vom 1. Mai bis 1. Oktober werden da weiße Mützen getragen.
Das hat der Kollege beibehalten. Das ist der einzige von uns, der mit einer weißen Mütze läuft.
Treffen sich zwei Freunde, und da sagt der eine: Na, was gibt's Neues? Ja, das einzige, was es Neues gibt: Dr. Born ist tot. Was, der ist tot, so was gibt es doch gar nicht! Doch, der liegt hier auf dem Friedhof. Da muss ich gleich hingehen. Ist er hingegangen und hat sich das angeguckt, die Gruft, die Stelle, na ein wunderbar großen Stein. 'Hier ruht in Frieden Dr. Arthur Born'. Und nun war noch so eine Stelle frei, wo seine Frau die Inschrift kriegen sollte, nicht, und da schreibt er dann mit gelber Kreide unter: 'Und die, die er behandelte, liegen weiter vorn!'"
Der Bürgermeister hat offene Sprechstunde im Rathaus jeden Donnerstagnachmittag. Fred Gransow ist eigentlich Malermeister, für die Kleinstadt ist er ehrenamtlich unterwegs. Ans Telefon geht er mit den Worten "Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Ich bin hier in Lassan aufgewachsen und zur Schule gegangen. Und das hat uns schon immer Spaß gemacht, mit den Lassaner Bürgern Lassan zu gestalten. Und jetzt war ich in dem Alter und hatte die Erfahrung im Stadtrat seit 1982, nun war es an der Zeit, zum Bürgermeister zu kandidieren.
Lassan hatte so wie jetzt 1500-2000 Einwohner, und 45-46 waren wir bis auf 4000 Einwohner gestiegen, also eine richtige Flüchtlingswelle. Das hat sich aber ganz schnell wieder relativiert. Das ging runter auf 3000 und dann ging es immer nach und nach bergab mit den Einwohnerzahlen.
Zum Beispiel hört man ja heute noch, wo die Leute damals hergekommen sind, die Familien. Vom Plattdeutschen her: Pferd - einige sagen Per, die anderen sagen Pierd, die anderen sagen Pärd. Und Koo und Kau bei der Kuh. Da hört man dann schon: der kommt da her, der kommt da her. Stettiner Ecke, Berliner Ecke, dann kommen die Sudetendeutschen etc. Das hört man dann immer noch in den alten Familien raus!
Die Stadt Lassan hat vor 13, 14 Jahren einen Beschluss gefasst, dass die Gemarkungen der Stadt Windenergie-Anlangen frei bleiben soll. Wir sind von Anfang an, 1990, damit gestartet, einen sanften Tourismus aufzubauen, und der soll auch so bleiben. Ich sage mal so ganz lax, wer Halli-Galli möchte, soll auf die Insel fahren, und hier kann man sich erholen. Wir haben eine wunderschöne Natur, ich war vorhin gerade mit dem Umwelt-Amt unterwegs, da haben wir wieder 5 Adler gesehen, die dann hier kreisen - ja, es ist eine wunderschöne Ecke hier.
Die Lassaneria ist eine Bereicherung für die Stadt, gerade für unser Sanierungsgebiet mit Altstadtkern. Und dann diese gastronomische Versorgung und Vielfalt hier noch zu bedienen ist phantastisch! Davon brauchen wir mehr! Da braucht man auch ein bisschen Überzeugungskunst und Überzeugungsarbeit, denn zuerst wurde Frau Schäfer belächelt: "Ach herrje, vegan essen, was soll det denn werden?" Es ist eine wunderschöne Atmosphäre da."

Und mittendrin in der Provinz: ein veganer Imbiss

Lassaneria, der Name ist eine Ode an die Stadt: neben dem Rathaus ein veganer Imbiss!
Innen ein sanftes Gelb, viele Kissen, Holzbänke. Wer Fleisch essen möchte oder deftiges Spiegelei, wird wieder gehen. Die Einheimischen essen eher nicht hier, aber Touristen freuen sich über Tische und Bänke direkt am Marktplatz. Die Lassaneria wird auch zum Treffpunkt des alternativen Netzwerkes. Simone Schäfer, die Betreiberin, hat einen langen Atem aus Sachsen mitgebracht. Morgens fährt sie für zwei Stunden in den Wald, Giersch, Brennnessel und Bärlauch für die Wildkräutersuppe zu pflücken, und einmal in der Woche geht sie mit ihren Gästen auf eine Kräuterwanderung. Simone Schäfers Kräuterkunde ist Teil eines ganzheitlichen Gesundheitskonzeptes:
"Ich glaube wirklich, dass es ein Problem von Menschen in dieser Gesellschaft ist, viel zu viel im Kopf unterwegs zu sein und im wahrsten Sinne des Wortes den Kontakt zum Boden, zur Erde zu verlieren. Und so gesehen ist es eine super Idee, hin und wieder daran zu denken: Was kann ich denn eigentlich dafür tun, mal wieder anzukommen, mal wieder Bodenhaftung zu erleben? Alle Überbetonungen von einem Element führen immer in die Krankheiten. Wurzeln sind eine gute Idee für Erdung, auf jeden Fall.
So eine Initialzündung war für mich: Meine Tochter war sechs Monate alt, und sie hatte zum ersten Mal eine Mittelohrentzündung. Und ich kannte in dieser Stadt keinen besonderen Arzt und bin dann bei einem gelandet, der wirklich die Penizillin-Spritze aufgezogen hat, und ich habe mich da noch getraut zu sagen, ob es denn wirklich die einzige Möglichkeit ist? Und ihm ist lediglich als Antwort dazu eingefallen, ob ich dafür verantwortlich sein will, dass mein Kind später einen Hörschaden davon trägt? Das war mir schon klar, dass das eine glatte Erpressung war. Ich habe ja aber keine Idee gehabt, was ich in dem Moment machen soll, ich war ja auf seine Hilfe angewiesen, und habe mir einfach geschworen, das darf mir nie wieder passieren!
Und dann war eben die Frage: Was ist denn die Alternative? Was haben wir denn in der Hand? Und dann ist uns eingefallen, dass früher die Frauen es auch hingekriegt haben mit Pflanzen zu arbeiten, mit Heilkräutern. Und das, was wir da finden konnten, waren zwei gute botanische Bücher, und die haben wir dann uns unter den Arm geklemmt und sind damit als ahnungslose Stadtratten wirklich raus in die Natur, an den Waldrand, auf die Wiese und haben einfach geschaut, was ist was. Und haben angefangen, zu trocknen, Hustentees auszuprobieren etc..
Kräutergarten Pommerland, eine Genossenschaft ist das, die habe ich mit gegründet 2001, und habe da die ersten Rezepturen für die Teemischungen entwickelt."
Ich begleite Simone Schäfer auf einer Kräuterwanderung, die gut zwei Stunden dauert und erfahre wirklich viel über die Essbarkeit von Pflanzen in der Natur:
"Auch wenn Menschen mit Grün überhaupt nichts am Hut haben, aber mit der hat jeder Mal ein Rendezvous gehabt: was eine Brennnessel ist, weiß jeder. Und es gibt ja so die Frage, warum die diese hässlichen Brennhaare hat, die uns so weh tun? Die Indianer sagen: "Der große Geist hat dieser Pflanze die Brennhaare deswegen verliehen, weil die Menschen die sonst längst aufgefressen hätten." Also, das ist einfach mal ein Schutz. Und es ist auch wirklich eine richtig große Heilpflanze.
Die liefern auch Kieselsäure. Wie wichtig war für einen Bauern ein Pferd? Wenn die so einen alten Gaul noch einmal auf dem Pferdemarkt verkaufen wollten, einmal noch, dann haben die ein viertel Jahr vor dem Pferdemarktstermin angefangen, denen Brennnessel-Samen ins Futter zu mischen! Drei mal dürft ihr raten, warum! Die haben wieder ein schönes Fell gekriegt, das war glänzend, das war wieder geschlossen. Es gibt ja nicht umsonst Brennnessel-Shampoo, Brennnessel-Spülung, ihr könnt es auch selber machen. Beim Stillen oder Chemo-Therapie hilft die Brennnessel total.
Und die ist zweihäutig. Ich habe im Garten gesessen, einen Tee in der Hand, und es war so ein Wetter wie heute: Sonne, und dann sind da Rauchwolken aufgestiegen! Ich habe kein Feuer gemacht, was ist hier los? Und es waren diese Pollen, die sich eben von der männlichen Brennnessel verabschiedet haben, dieses Explodierende. Deswegen meine ich, die repräsentiert das männliche Prinzip. Auf der Suche natürlich nach dem weiblichen Pendent, was es auch irgendwo gibt."
Am Hafen von Lassan gibt es das männliche Prinzip in Reinform. Sie sind stolz, sie wissen, was sie können, und das Leben als Fischer hat seinen Tribut gefordert. Auch sie treffen sich oft, wie es das Wetter erlaubt - und kennen sich ihr Leben lang. Der erste Mann:
"Ich bin kein Lassaner, ich bin hier nicht geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg '47 sind wir von Swinemünde geflüchtet. Geboren bin ich in Kamin, das ist von Swinemünde 50 km auf dem Festland. Früher als Kind, mit de Gören, da haben wir polnisch gesprochen. Heute kann ich nicht mehr ein Wort.
Mein Großvater war Fischer, mein Vater war Fischer, die Onkels waren alle Fischer. Der eine war Bootsbauer, die anderen waren alle Fischer. Aus der 8. Klasse habe ich da Jahre in Sassnitz gelernt Fischer, und dann habe ich meine Patente gemacht, sonst konnte man ja kein Boot fahren, und dann habe ich den Kutter nachher von meinem Vater übernommen mit meinem Bruder zusammen.
Manchmal kriege ich Spritzen, Tabletten, und die schlagen manchmal gar nicht an. Ich war 50 Jahre Fischer. Immer kalte Füße. Die Nässe, die Nässe!
Immer von hier auf die Ostsee gefahren. Von hier auf die Peene. Früher war die Genossenschaft, mussten wir alles abliefern. Aber jetzt nach der Wende, die Bauern und die Fischer, die haben EU-Recht. Wir haben einen Schein gekriegt und konnten in jedem EU-Hafen unsere Fische verkaufen. Aber, nun kommt das andere: aufschreiben für das Finanzamt. Die wollten das Geld haben.
Sind manchmal fünf Stunden gelaufen zum Fangplatz auf dem Wasser. Dann haben wir gefischt Tag und Nacht und dann ging's wieder nach Hause. Fische abgeliefert. Wenn Sturm ist, ging das ja nicht. Ja, wir haben so manches mitgemacht.
Und einmal sind wir liegen geblieben, Motorschaden. Zu DDR-Zeiten. Wir hatten ja kein Segel, gar nichts. Unseres war ein 10m-Kutter und der konnte ganz schön was ab.
Da haben die gedacht, wir wären abgehauen nach dem Westen. Von der Marine kam dann Marine-Boot und dann habe ich Seenot-Fackel, die habe ich dann angeschossen. Dann ging das 300m hoch in die Luft. Das war so ein Abkommen, DDR, Polen und Russland, der Hubschrauber kam von Danzig, der hat uns gesichtet denn."
Der zweite:
"Wir haben uns erkundigt, keiner konnte sie finden, sie waren zu flott. "Ich werde losfahren und sie holen!" Und da hat der Hafenkapitän nachher, wie ich weg war, sich so uffgeregt, wie ich sowat sagen kann. Die hatten ja selber auch geangelt, die wussten ja, wo er ungefähr sein musste. Und dann sind wir losgefahren, treffen unterwegs noch einen Karlshagener Kutter und stoppen den, das war Fisch, Bruno Fisch. Und ich segg: "Mensch, ihr kommt doch hier von der Oderbank, habt ihr nischt gesehen?" "Nee, wir hem dat hürt im Funk, aber sehn hem wi nix."
Na, dann sind wir losgelaufen, den Kurs so, den wir früher auch gelaufen sind, nach 'ner Stunde, eineinhalb Stunden, habe ich den Kieker genommen und geguckt. Sah ich einen Schweten, wo die Angeln dran sind, nicht. Den angelaufen, südost runtergelaufen, dann nachher sah ich sie schon: Haken hoch, ne Schürze dran gebunden, ich segg zum Bruno: "Da sind se!" Und dann haben wir sie mitgenommen. Und unterdessen hattet ihr einen Rettungsring gezeigt, dem polnischen Hubschrauber.
Wir wussten ungefähr, wo er sein musste. Er konnte ja nur durch irgendwas Unvorhergesehenes entweder untergegangen oder gerammt nachts, kann ja alles passieren, wenn man vor Anker liegt, und da kommt irgendwie ein anderes Schiff an und übersieht das, dann kann er weg sein. Und war auch auslandiger Wind, der hätte immer die Usedomer Küste kriegen müssen. Und wenn wir ihn da nicht gefunden hätten, hätten wir es abgesucht da. Und zum Glück haben wir mitgenommen einen Proviantkorb. Ich sagte zu der Schwester: "Marianne, mach einen Korb fertig, die haben Durst und Hunger!" Ja, und das war das erste, wo sie nach gefragt haben: "Habt ihr was zu essen und zu trinken?""
Der erste:
"Überhaupt im Frühjahr, da haben wir viel Heringe gefangen. Früher gab es viel Barsche hier, Barsche ist nicht mehr viel. Der größte war 3 1/2 Pfund, mein größter Barsch, den ich gefangen hab. Aber Hecht, 31 Pfund und Zander 25 Pfund. So 'ne großen Dinger waren hier in der Peene. Die haben wir in die Genossenschaft abgeliefert, und die haben sie dann saubergemacht und in die Hotels.
Und einmal saß ich im Hotel Belvedere in Berlin. Spezialität des Tages: Kochaal auf Spreewälder Art. Da sage ich zu die Dame: "Wo kommt der Aal her? Was ist das für ein Aal, Spitzkopf? Langaal, Breitkopf?” Kam der Koch an: "Ja,” sagt er, "das weiß ich nicht. Sind Sie ein Spezialist?” Ich sage: "Ich fang meinen Aal alleine!"
Ja, und heute ist der Aal mächtig zurück gegangen. Sehr, sehr zurück gegangen. Der wird schon ausgerottet im Golfstrom.
Ich habe 1958 angefangen zu lernen. Da gab es ein oder zwei Kormorane. Und jetzt sind 40 000 Brutplätze. 3 oder 4 Pfund am Tag, Aal essen sie am liebsten, weil das schön fett ist. Die brüten ja 2 x im Jahr, die Biester! Aber stehen unter Naturschutz."

"Hier sind noch Flora und Fauna intakt"

Mit meiner Wirtin *) spreche ich wieder und wieder und erfahre schließlich, dass sie eine Lassanerin ist, die mit ihrer Mutter geflohen war und spät zurück kam. Und dann nahm sie es sich als Altersaufgabe, Häuser zu restaurieren. Ihr Blick ist ausdauernd, direkt, ihre Menschenkenntnis und ihre Visionen sind beeindruckend. Da ist eine weibliche Intuition, sagt sie, die sich in der Praxis bestätigt:
"Wir kamen aus Lassan und meine Mutter ist nach Swinemünde gezogen. Da waren wir noch alleine, meine Mutter und ich. Lassan ist beschossen worden, der Kirchturm ist getroffen. Die Schüsse, das weiß ich, und ich hab die Panik meiner Mutter gespürt und dass sie mit mir in den Wald gelaufen ist. Es war dunkel. Das waren in der Zeit für mich sehr einschneidende Erlebnisse.
Und dann auf der Kommandantur, wo sie gearbeitet haben, hat einer von den Russen meiner Mutter gesagt, sie müssten heute Nacht raus aus Swinemünde, weiter über die Grenze weg. Also, es wird 'ne Grenze gemacht, und der Pole kommt morgen. Und denn hat er ihr gesagt, wo sie rüber gehen soll, weil er da Wache schiebt. Und am nächsten Tag kam man da nicht mehr raus.
Und ich hab auch eine wunderschöne Zeit da in Swinemünde bei den Russen verbracht, muss ich ehrlich sagen. Die haben mich aufs Pferd gesetzt, ich musste reiten, auf 'nem kleinen Pony erst. Ich war ja auch etliche Jahre nicht hier. Zuerst hab ich mich nicht getraut her zu fahren.
Ich konnte gar nicht in mein altes Haus, das war ja nicht mehr meins. Es war ja enteignet seinerzeit. Die Stadt war ja auch stehengeblieben. Es war ja nichts gemacht. Es waren Schlaglöcher über Schlaglöcher. Wenn man jetzt guckt, es sind so viele schöne Häuser schon entstanden, es sind Straßen gemacht worden, es sind selbst die Gassen schon gemacht worden.
Ich freu mich, wenn ich irgendwo ein Gerüst draußen sehe oder einen Wagen mit irgendwelchen Materialien eines Baumarktes. Dann denke ich, oh, jetzt da auch. Alte Häuser, die unterliegen dem Denkmalschutz und da muss sich der Eigentümer immer danach richten, was der Denkmalschutz vorschreibt.
Es gibt diese wunderschönen Türen, die in verschiedenen Farben gemalt sind. Hier in der Wendenstraße steht ein Haus rot mit weiß, dass es leuchtet und so ansprechend ist. Es ist dieses Fachwerkhaus gemacht Ende der Wendenstraße zur Kirche hin, das ganz liebevoll restauriert ist.
Ich mach es, weil es möchte. Weil die Stadt eigentlich so schön ist, und jedes bisschen, was mehr gemacht wird, das kommt allen zugute. Es ist für mich Mühe, Kraft, Arbeit, unglaublich viel Arbeit. Finanzielle Vorteile habe ich da nicht. Ich mache es, weil die Stadt es braucht. A, weil ich es fachlich konnte und zum anderen, weil ich die Menschen gefunden habe, die in Lassan auch ein Potential gesehen haben und gesagt haben, man müsste hier für uns was machen. Und dieses beide zusammen hat meiner Meinung nach ein sehr gutes Ergebnis ergeben. Und wer keine Fehler macht, der arbeitet nicht. ( ... )
Ich habe die Ideen, ich habe unglaubliche Ideen. Ich kann jetzt irgendwas sehen, und dann geht das durch meinen Kopf und dann mache ich irgendwelche stupide Arbeiten und nehm das mit, und bei diesen stupiden Arbeiten habe ich die besten Ideen! Und ich bring sie dann zu Papier. Und all das, was ich negativ erlebt habe in meinem Leben, das habe ich auch zu Papier gebracht. Ich habe es mir einfach mal in mehreren Nächten von der Seele geschrieben. Und damit war ich durch! Ich habe es damit auch bewältigt. Dann habe ich es weggeworfen."
Und dann hält sie kurz inne, schaut sich um - und spricht die schönste Liebeserklärung an diesen ruhigen Winkel am Peenestrom aus, wo die Eile einen Umweg macht.
"Hier ist noch Flora und Fauna völlig in Takt. Es ist so wunderschön um Lassan. Dieser ganze Lassaner Winkel ist von der Natur her überschüttet worden in Schönheit, es ist alles immer noch im Ursprung. Die Ruhe muss auch bleiben. Es ist der Hafen da, der ja nicht so groß ist. Wir werden hier nie eine Riesenmarina bekommen. Es wird nicht viel gebaut, es sind keine großen Baugebiete ausgewiesen. Es wird ganz langsam die eine Lücke nach der anderen geschlossen. Aber Lücken, es wird nicht große Gebiet völlig neu erschlossen. Und man bekommt keine neue Stadt. Und das ist auch nicht erforderlich. Das sollte man auch nicht machen, dann wird die Natur zerstört. Und die müssen wir erhalten. Das ist das Kapital des Lassaner Winkels."
*) Der richtige Namen wurde aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert. Er ist der Redaktion bekannt.