Laschet hält Elterngeld für sozial ungerecht
<strong>Deutschlandradio Kultur:</strong> Herr Laschet, Sie sind ein wahrer Avantgardist, der erste Generationenminister, auch der erste Integrationsminister in Deutschland. Wie fühlen Sie sich als Vorreiter, als Wegbereiter einer neuen Politik?
Armin Laschett: Das ist spannend, ein Themenfeld zu bearbeiten, dass es als Thema natürlich schon immer gab, das aber noch nie als Ministerium bearbeitet wurde. Man betritt Neuland. Man muss auch organisatorisch manches zum Schwerpunkt machen und klar sagen, das ist jetzt wichtig, da muss auch alles darauf hinarbeiten. Insofern ist das sehr reizvoll.
Deutschlandradio Kultur: Fühlen Sie sich nicht einsam, wie sich die Avantgarde sich doch immer ein bisschen einsam gefühlt hat?
Laschett: Nein, bisher fühle ich mich nicht einsam, zumal es auf diese Themen auch außerhalb des Hauses ein sehr positives Echo gibt. Ich wünsche mir manchmal, dass man in anderen Bundesländern auch schon ein ähnliches Ministerium hätte. Dass man ein paar Kollegen hätte, mit denen man intensiver daran arbeiten könnte. Es gibt ein paar, die das machen, aber das ist dann sehr verteilt in anderen Landesregierungen. Vielleicht können wir andere auch ermutigen, so etwas auch zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Zum positiven Echo sind bei mir ein paar Zweifel vorhanden. Ausgerechnet Ihr Ressort hat ja bei den Haushaltsverhandlungen verloren, obwohl 2006 laut Aussage Ihres Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers das "Jahr des Kindes" ist und Sie aus Nordrhein-Westfalen das "kinder- und familienfreundlichste Bundesland" machen wollen. Die Landesregierung will laut Städtetag-Geschäftsführer Stephan Articus im Haushalt 2006 zum Beispiel bei der Kindergartenförderung 120 Millionen Euro einsparen. Das ist doch peinlich, oder?
Laschett: Es sind im Bereich der Kindertagesstätten 104 Millionen, davon sind 72 Millionen ein Trägerkonsolidierungsbeitrag, den es auch schon in den letzten zwei Jahren gab, der eigentlich abgeschafft werden sollte und den wir jetzt nicht abschaffen können, sondern einfach fortschreiben. Das Zweite ist, wir schaffen etwas ab, was hier in Nordrhein-Westfalen etwas ganz Besonderes ist, das es in keinem anderen deutschen Bundesland gibt - ein Elternbeitragsdefizit-Ausgleichsverfahren. Man hört schon am Wort, dass das wahrscheinlich etwas ganz Unbürokratisches ist ... Nein, es ist ein komplizierter Prozess. Den schaffen wir ab. Die Kommunen setzen demnächst selbst die Elternbeiträge fest. Das Land gleicht komplizierte Differenzen nicht mehr aus. Und das sind 42 Millionen Euro weniger im Landeshaushalt.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ein Beispiel, aber insgesamt ist es doch wahr, dass Ihr Ressort bei den Haushaltsberatungen Geld hergeben musste.
Laschett: Jedes Ressort musste Geld hergeben. Ich habe ja an dem Beispiel gerade klar gemacht: Wir erwarten von den Trägern 72 Millionen und von den Kommunen diese 42. Das ist alles, was im Bereich des Kindergartengesetzes passiert. Alle Ressorts geben 20 Prozent ab - quer durch den Haushalt. Wir sind im Ergebnis mit diesen Zahlen nur bei 11 Prozent. Wenn Sie dann noch Schule dazu nehmen, was ja ebenfalls für Bildung, für Kinder ist, kommen Kinder - und das war ja die Aussage, das wird das Jahr des Kindes - mit diesem Haushalt besser weg als jedes andere Ressort, von Straßen über Wirtschaft, über Arbeit.
Deutschlandradio Kultur: Deutschland steht ja wirklich einzigartig da in der Europäischen Union: die niedrigste Geburtenrate, die wenigsten Betreuungsplätze, die wenigsten Ganztagsschulen, die niedrigste Frauenerwerbsquote in der EU. Es liegt offenbar nicht daran, dass es zu wenig Geld für die Familien gibt, das sind immerhin jährlich über 60 Milliarden Euro, andere Berechnungen ergeben sogar 100 Milliarden, sondern es liegt daran, wofür es ausgegeben wird.
Laschett: Richtig. Wir geben das meiste Geld aus und haben die geringste Geburtenrate. Das Ergebnis ist, irgendwas von dem Geld wird wahrscheinlich nicht so eingesetzt, dass es Familien darin ermutigt, auch Ja zu Kindern zu sagen. Deshalb finde ich es richtig, was die Bundesfamilienministerin jetzt vorhat, nämlich alle Leistungen einmal auf den Prüfstand zu stellen, einmal genau zu analysieren, ob das Geld genau bei denen ankommt, die es eigentlich bekommen sollten. Ich finde, da müssen wir auch mal über den Schatten Bund-Länder springen. Es ist dann auch nicht damit getan, dass man sagt: Da ist ja der Bund zuständig oder gar die Länder. Man muss gucken: Wie setzen wir diese 100 Milliarden, die viel, viel Geld sind, besser für Familien und für Kinder ein?
Deutschlandradio Kultur: Man kann es ja aufschlüsseln. Zum Beispiel kostet das berühmte Ehegattensplitting, bei dem Ehepaare steuerlich bevorzugt werden, wenn ein Partner, im Allgemeinen der Mann, viel verdient und der andere Partner, im Allgemeinen die Frau, wenig verdient, 22 Milliarden Euro. Für die Kinderbetreuung werden aber nur acht Milliarden ausgegeben. Wäre es nicht sinnvoll, endlich mal an dieses Ehegattensplitting heranzugehen?
Laschett: Ich weiß nicht, ob man nun gerade das so gegen rechnen kann. Familien haben Einkommen. Die werden im Ehegattensplitting addiert und gemeinsam versteuert. Das ist ja der Sinn des Ehegattensplittings.
Deutschlandradio Kultur: Aber das Ehegattensplitting bevorteilt jedes Paar, egal, ob es Kinder hat oder nicht.
Laschett: Das ist wahr. In der Verfassung steht, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz stehen. Deshalb ist diese Lebensgemeinschaft eine Ehe, die der Staat durch dieses Splitting besonders unterstützt.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem stimmt mit dem Betreuungsangebot in Deutschland etwas nicht. Müsste sich die Familienförderung in Deutschland nicht grundsätzlich neu orientieren und sagen: Wir gehen von der direkten materiellen Förderung, also vom Kindergeld, weg, hin zu mehr besserer Betreuung?
Laschett: Ja, das stimmt. Die Familienbetreuung stimmt bei uns nicht, besonders in Nordrhein-Westfalen nicht. Wir haben 2,8 Prozent Plätze für unter Dreijährige. Das ist eine ganz schlechte Ausgangsbasis. Ich glaube in der Tat, dass junge Familien heute ihre Entscheidung ganz wesentlich davon abhängig machen, ob sie Ja sagen zu Kindern oder nicht, ob Familie und Beruf miteinander vereinbar sind. Das führt zum einen dazu, dass man die Entscheidung für Kinder immer weiter hinausschiebt, im Vergleich zu allen anderen Ländern, wo man viel früher auch Kinder bekommt, weil man weiß, man kann wieder in den Beruf einsteigen. Das ist eine Besonderheit in Deutschland. Das hängt ganz entscheidend am Kinderbetreuungsangebot.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, Kindergeld kürzen und dafür Betreuungsangebot ausbauen?
Laschett: Ich habe letztens mal eine Summe genannt, nur um mal die Größenordnung klarzumachen: Wenn wir das Kindergeld um zehn Euro kürzen würden - ich sage es im Konjunktiv, das ist kein Gesetzesvorschlag, aber um die Dimension klarzumachen -, hätten wir 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung, die man entweder in Betreuung einsetzen könnte oder beispielsweise mit einem Schlag alle Kindergärten frei machen könnte.
Deutschlandradio Kultur: Würde, hätte, könnte - hielten Sie, halten Sie das für sinnvoll?
Laschett: Ich halte das in dem, was Frau von der Leyen jetzt alles überprüfen will, für eine ganz wichtige Idee, zu sagen: Vielleicht weniger an Barleistungen und mehr in Betreuung; so wie Ihre erste Frage ja auch lautete: Brauchen wir nicht mehr Betreuung und weniger Barleistung?
Deutschlandradio Kultur: Die Bundesministerin von der Leyen will ja auch das Elterngeld ab dem kommenden Jahr einführen. Das heißt, der Elternteil, der das Kind betreut, bekommt zwölf Monate lang zwei Drittel seines früheren Einkommens. Zwölf Monate lang gibt es das allerdings nur, wenn auch der Vater zwei von diesen Monaten nimmt. Sonst gibt es das nur zehn Monate lang, weil im Allgemeinen ja die Mutter zu Hause bleibt. Nun kann man doch fragen: Was geht es eigentlich den Staat an, wie die Eltern untereinander die Betreuung aufteilen?
Laschett: Das ist eine gute Frage. Erst recht sollte man sich die im 21. Jahrhundert stellen, wo man ja von mündigen Paaren und mündigen Menschen ausgeht. Wenn das ein Beitrag dazu wäre, dass vielleicht Väter und Mütter neu über ihre Aufgabenverteilung nachdenken, und wenn es ein Anreiz auch für Arbeitgeber wäre, so wie es ja begründet wird, sich auch vorstellen zu können, dass Männer einmal eine Elternzeit nehmen, dann würde ich es für gerechtfertigt halten. Die Erfahrungen in Skandinavien, wo das ja praktiziert wird, sind allerdings die, dass das vielfach einfach als verlängerter Jahresurlaub genommen wird und dass sich danach an der Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen eigentlich nichts ändert. Wenn es so ist, wäre das erneut Geld in ein System gegeben, wo es nicht das erreicht, was man erreichen will. Das Elterngeld hat manches für sich. Ich finde es sind viele, viele Fragen noch unbeantwortet, wie es beispielsweise mit Alleinerziehenden geht.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei diesen Väter-Monaten. Halten Sie die für zulässig oder nicht?
Laschett: Wenn damit die Absicht verbunden ist, wir müssen jetzt die, die eigentlich nicht so weit sind, umerziehen, so wie es am Anfang begründet wurde, dann finde ich es falsch. Das ist nicht Sache des Staates. Ich glaube, dass die Leute heute mündig genug sind. Ich halte das für falsch. Wenn es ein Anreiz ist für Väter und Arbeitgeber, etwas in Anspruch zu nehmen, was sie nur deswegen nicht tun, weil unsere Arbeitswelt so ist, dann könnte ich dem etwas abgewinnen - aber nicht als Umerziehungsprogramm des Bundes.
Deutschlandradio Kultur: Aber da gibt es so etwas wie einen Richtungsstreit in der Union, was dieses Thema angeht. Die Familienministerin von der Leyen will es vor allem berufstätigen Paaren erleichtern Eltern zu werden. Und viele in der Union sorgen sich, dass die traditionelle Hausfrauen-Ehe benachteiligt wird. Steht die Union da vor einer Zerreißprobe oder eher vor einer grundlegenden Neuausrichtung?
Laschett: Ich glaube nicht, dass wir uns neu ausrichten müssen, da wir in den 80er Jahren als Union ja schon mal durchgesetzt haben, damals erdacht von Heiner Geisler und Rita Süßmuth, dass Arbeit sowohl Erziehungsarbeit als auch Erwerbsarbeit sein kann und dass sie gleichwertig ist, dass der, der sich für Erziehungsarbeit entscheidet, das auch in der Rentenversicherung anerkannt bekommt. Insofern sollte die Politik weder nur auf die Berufstätigkeit noch auf die - wie Sie es nennen - Hausfrauen-Ehe setzen, sondern es als Wahlfreiheit Paaren möglich machen, wie sie das selbst organisieren. Und wenn jemand sagt, ich möchte ein, zwei, drei Jahre meine Kinder erziehen, sollte der Staat nicht der sein, der sagt, nein, wir organisieren das System aber so, dass du so schnell wie möglich in den Beruf zurückgehst. Interessanterweise haben wir übrigens im Landtag hier die Unterstützung der Grünen, die exakt gesagt haben: Was Frau von der Leyen macht ist falsch. Kinderbetreuung muss der erste Schwerpunkt sein, um in dem modernen Familienbild den Wiedereinstieg in den Beruf zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu ermöglichen. Was hilft Ihnen das, wenn Sie zehn Monate Elterngeld haben, aber dann immer noch keinen Betreuungsplatz für Ihr Kind haben? Das ist eine vollkommen falsche Schwerpunktsetzung.
Deutschlandradio Kultur: Wir waren jetzt aber bei der Hausfrauen-Ehe, wo Sie genau wie die konservativen Kreise in der Union sagen, die dürfen wir nicht diskriminieren. Frau von der Leyen will es ja aber berufstätigen Eltern, wo beide berufstätig sind, erleichtern Kinder zu bekommen. Das ist doch ein Unterschied.
Laschett: Da die meisten Menschen, wenn sie heiraten, beide berufstätig sind, geht es nicht darum, ob jemand ...
Deutschlandradio Kultur: Aber sobald ein Kind da ist, ...
Laschett: … dann sagt jemand, ich widme mich jetzt der Erziehungszeit. Väter und Mütter können das. Das ist Wahlfreiheit. Das ist nicht konservativ, sondern das hat hier eine breite Unterstützung über die Union hinaus. Und das finde ich richtig. Ich finde wichtig, dass man Familie und Beruf vereinbar macht, und der, der Berufsarbeit leisten will, dazu auch die Chance haben soll. Aber dass prinzipiell Kinder besser erzogen sind in staatlicher Betreuung als durch jemanden, der sich den Kindern widmet, ist nicht die Position der Union. Das ist nebenbei auch nicht die Position von Frau von der Leyen. Sie sagt nur, ich will eine bestimmte Gruppe ermutigen, die im Moment keine Kinder bekommen.
Deutschlandradio Kultur: Die Akademikerinnen.
Laschett: Ja, aber das ist auch in manchem sozial ungerecht. Deshalb wundert es mich auch, dass die SPD - jedenfalls im Bund - so leidenschaftlich dafür kämpft. Zum ersten Mal in unserer gesamten Familienförderung geben wir mehr Geld für die Rechtsanwältin als für die Rechtsanwaltsgehilfin, wenn sie schwanger wird. Das kann man machen, das ist Skandinavien. Aber mir läge das französische Modell unserer Tradition näher, wo wir sagen: Eine gute Kinderbetreuung, wenn man schon so viel Geld in die Hand nimmt, ist wichtiger als Lohnersatzleistungen auch für besser Verdienende zu bezahlen.
Deutschlandradio Kultur: Eine Lohnersatzleistung orientiert sich aber eben am vorherigen Lohn, wie das Arbeitslosengeld.
Laschett: Das ist richtig, aber das haben wir bei der Familienpolitik bisher nie gemacht. Unser Prinzip war immer: Jedes Kind ist uns gleich viel wert. Das ist ein Systembruch. Das muss man nur wissen. Es gibt Argumente dafür.
Deutschlandradio Kultur: Ein Systembruch, der von Ihrer Partei betrieben wird!
Laschett: Ich weiß es. Deshalb sage ich trotzdem, dass es falsch ist, was da betrieben wird. Das hat Nordrhein-Westfalen deutlich gemacht. Das ist ja gut, dass in so einer Konstellation wie einer großen Koalition die Debatte auch mal quer durch die Reihen geht, dass die Grünen mir zustimmen und Frau von der Leyen nicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Laschet, Sie sagen, die CDU habe lernen müssen, dass Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft ist. Stimmt das? Da lädt zum Beispiel die Berliner CDU zu Diskussionsabenden unter dem Titel "Abschied von Multikulti" ein. Ihr nordrhein-westfälischer Ministerpräsident Jürgen Rüttgers spricht von einer "Lebenslüge von der multikulturellen Gesellschaft" und Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt, Multikulti sei dramatisch gescheitert. Offenbar hat die CDU ihre Lektion ja doch noch nicht richtig gelernt, oder?
Laschett: Ich glaube, das ist vor allem ein Streit um Worte. Dass wir de facto eine multikulturelle Gesellschaft sind, man kann auch sagen, dass viele Kulturen, multi heißt lateinisch viele, bei uns leben, werden weder die von Ihnen eben zitierten, noch sonst irgendjemand in diesem Lande bestreiten können. Dass unterschiedliche Religionen in Deutschland leben und auf Dauer hier leben werden, wird kaum jemand bestreiten können. Insofern kann man das multikulturelle Gesellschaft nennen. Man kann das anders formulieren, man kann drum herum reden. Man kann sagen, ein Leben vieler Kulturen, man kann interkulturell sagen, das ist das neue Modewort, was multikulturell ersetzen soll, weil es ein Kampfbegriff ist. Ich nenne es so, weil es die Wirklichkeit im Lande widerspiegelt. Das ist was anderes als multikulti. Wenn sich die Union sich da ändern musste, dann musste sich die Linke beim Thema multikulti ändern. Multikulti heißt nicht, jeder kann aus seiner Kultur alles rechtfertigen. Multikulti heißt auch, es ist nett und bunt und es gibt keine Probleme damit. Und das meint unser Ministerpräsident, wenn er sagt, diese Illusion ist gescheitert, dass das alles reibungslos ist und das Leben nur bereichert. Es bringt Probleme. Wir müssen Anforderungen benennen. Zu den Anforderungen gehört die Einhaltung des Grundgesetzes. Und dass wir heute das erste Mal auch unter Zuwanderern selbst über so eine Frage wie Zwangsverheiratung von Mädchen, "Ehrenmorde" und so weiter offen sprechen, zeigt, dass wir da lange Jahre auch vieles verdrängt haben.
Deutschlandradio Kultur: Gut, dann nehmen wir jetzt nicht diesen Kampfbegriff, sondern sagen, die kulturelle Vielfalt in Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen, dauerhaft haben Sie gerade gesagt, als sei das selbstverständlich. Es ist doch Ihrer Partei sehr lange sehr schwer gefallen anzuerkennen, dass Deutschland - um es anders zu nennen - ein Einwanderungsland ist. Nun haben Sie gesagt, Herr Laschet, als es um die Debatten um Leitkultur ging, wir könnten auch, also wir Nichtmigranten, von den Migranten lernen, zum Beispiel wie man sich besser um die Alten kümmert, wie man kinderfreundlicher wird, kurz den Familienzusammenhalt. Auf der anderen Seite ist es aber doch so, dass dieser von Ihnen so gelobte Familienzusammenhalt ja meist auf sehr strikten Regeln und starren Rollenbildern beruht, die häufig vom Islam diktiert werden. Können wir das auch lernen?
Laschett: Nein, natürlich können wir das nicht lernen. Die Frage ist, wenn wir über Leitkultur sprechen: Meint das etwas, das über das Grundgesetz hinausgeht? Es debattiert, glaube ich, kein Mensch mehr darüber, dass einer aus seiner Kultur heraus Verletzungen von Frauenrechten oder anderes rechtfertigen und sagen könnte, weil das in meiner Kultur üblich ist, steht das über dem Grundgesetz. Das vertritt niemand mehr, also ist das Grundgesetz und die Rechtsordnung des Landes die Basis des Zusammenlebens. Aber das reicht nicht. Das Grundgesetz ist etwas nicht sehr Emotionales, mit dem man sich identifiziert. Deshalb brauchen wir die Leitkultur und die Leitkultur sollte eine gemeinsame sein. Es kann keine sein, wo wir Deutschen vorgeben: Leitkultur ist, dass jeder Karneval feiern muss oder im Schützenvereinen organisiert sein muss. Sondern Leitkultur meint: Was sind Werte, die wir gemeinsam teilen? Das kann nur eine gemeinsame werden, wenn wir den Zuwanderern auch eine Chance geben, ihren Beitrag zu leisten.
Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns noch mal zurückkommen zu dem, was wir von den Migranten lernen können.
Laschett: Wenn Sie sagen, wir wollen eine gemeinsame Leitkultur, heißt das ja, dem anderen müssen Sie auch die Möglichkeit geben, ebenfalls beizutragen. Welche Werte haben Zuwanderer, die wir verlernt haben? Da habe ich gesagt, zum Beispiel das Zusammenleben der Generationen ist etwas, was bei Zuwanderern stärker als bei uns gelebt wird, dass die Kinder für die Eltern und die Kinder auch für die Eltern einstehen bis ins hohe Alter. Den Familienzusammenhalt habe ich ebenfalls erwähnt. Was Sie beschreiben, ist natürlich völlig richtig. Es geht nicht, dass der 15-jährige Bruder seiner Schwester sagt, welchen Freund sie dann zu nehmen hat, wenn sie sich einen Freund sucht. Da geht mir bei manchen Zuwanderern der Familienzusammenhalt ein Stückchen zu weit. Aber dass sie als Familie noch besser zusammenhalten als wir, dass wir ernsthaft bei Hartz IV diskutiert haben, ob man ab dem 25. Lebensjahr nicht mehr für seine Eltern einstehen muss, das zeigt, dass wir da von Zuwanderern - nebenbei auch von Aussiedlern - noch was lernen können.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, es sollen beide Parteien, die Mehrheitsgesellschaft und die Zuwanderer, die Migranten und die Deutschen sollen zusammen eine gemeinsame Leitkultur entwickeln. Von Migranten soll der stärkere Familienzusammenhalt beispielsweise kommen. Was soll denn dann von den Deutschen kommen?
Laschett: Ich habe lange Zeit nicht verstanden, was eigentlich eine deutsche Leitkultur sein soll. Was ist ein spezieller deutscher Wert? Den erkenne ich nicht. Alle Werte, die wir haben, sind - wenn - europäische Werte, die sich auch in der Europäischen Verfassung niedergeschlagen haben. Das ist ein jüdisch-christliches Wertegebilde, das auch im Grundgesetz Einfluss genommen hat, das ist die Aufklärung, die Französische Revolution, das ist das, was wir einbringen in diese Debatte. Ich glaube aber, das ist eine europäische Debatte, keine deutsche Debatte. Ich glaube, dass es trotzdem auch besondere deutsche Merkmale gibt. Zum Beispiel finde ich, dass wir wie kein anderes Land in Europa aufgrund unserer Geschichte sensibler sind bei jeglicher Form von Antisemitismus, so dass der, der Deutscher wird, auch wissen muss, dass Deutsch nicht nur Goethe und Beckenbauer ist, sondern auch Holocaust, schreckliche Kapitel der Geschichte. Da kann ein Zuwanderer nicht sagen: Damit habe ich nichts zu tun, ich bin eingewandert. Wenn er Deutscher wird, gehört das auch mit zu seiner Geschichte. Ich glaube, das ist das, was wir da einbringen können.
Deutschlandradio Kultur: Die Kenntnis der deutschen Sprache ist der Schlüssel zur Integration, haben Sie einmal gesagt. Deshalb müssen jetzt alle Kinder mit vier Jahren einen Sprachtest machen in Nordrhein-Westfalen. Aber was passiert, wenn die Kinder diesen Sprachtest nicht bestehen?
Laschett: Wir haben gesagt, jedes Kind, das in die Schule kommt, muss Deutsch sprechen. Das ist die Zielsetzung, weil die PISA-Ergebnisse zeigen, Zuwandererkinder haben die schlechtesten Bildungschancen in unserem Land. Damit kann man sich nicht abfinden. Das beginnt damit, dass man im ersten Schuljahr die Sprache nicht spricht. Damit ist klar, man ist auch in Fächern wie Mathematik schlechter. Der Weg in die weiterführende Schule ist vorgezeichnet. Dort hat man am Ende keinen Abschluss und wandert in die Sozialsysteme. Deshalb muss man so früh wie möglich bei den Kindern beginnen. Das wird zurzeit in Crash-Kursen gemacht, wo man dann knapp bei der Schuleingangsuntersuchung untersucht, ob das Kind Deutsch kann. Wenn es das nicht kann, muss es in spezielle Sprachkurse. Aber Kinder sind keine Manager, die man in Crash-Kurse schickt, sondern bei Kindern muss man es spielend mit anderen Mitteln lehren. Deshalb ziehen wir diesen Schuleingangstest auf das vierte Lebensjahr vor. Dann wird zwei Jahre im Kindergarten Sprache mit den Mitteln des Kindes gefördert.
Deutschlandradio Kultur: Muss es das machen? Was ist, wenn die Eltern sagen: Nö?
Laschett: Das haben wir ja heute auch schon. Wenn es den Crash-Kurs nicht macht und die Eltern sagen Nö, gibt es im Zusammenhang mit der Schulpflicht die üblichen Probleme, so wie wenn einer sagt, ich schicke mein Kind nicht in die Schule.
Deutschlandradio Kultur: Konkret: ein Vierjähriger besteht diesen Sprachtest nicht. Ihm wird gesagt: Du gehst jetzt in den Kindergarten und machst Sprachförderung! Die Eltern sagen: Nein, das Kind geht nicht in den Kindergarten Was passiert dann?
Laschett: Es passiert dann das, was auch bei dem passiert, der nicht in die Schule geht. Er wird notfalls in den Kindergarten gebracht. Das ist rechtlich eine vorgeschaltete Schulpflicht.
Deutschlandradio Kultur: In der Berliner CDU wird darüber nachgedacht, Migranten, die sich einer solchen Sprachförderung verweigern, zu bestrafen. Was halten Sie davon?
Laschett: Was heißt bestrafen? Werden die eingesperrt oder Ordnungsgelder verhängt? Ich weiß nicht, was die da in Berlin erörtern. Bei uns geht es darum, dass die Kinder die Sprache erlernen. Das wird so durchgesetzt wie bei der Schulpflicht auch. Eine Strafe hilft da nicht viel weiter. Es geht ja darum, dass das Kind spricht und die Sprache lernt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Laschet, eines der wichtigsten Integrationshindernisse ist hierzulande die hohe Arbeitslosigkeit bei Zuwanderern. Nun sind Sie ja weder Arbeitsminister, noch Wirtschafts-, noch Bildungsminister, aber trotzdem wiegt dieses Problem sehr viel schwerer als die Sprachkurse und die Begegnungsstätten, die Sie so anbieten können für Ihr Klientel. Sie haben ja hier in Nordrhein-Westfalen eine interministerielle Arbeitsgruppe Integration gegründet. Die soll ressortübergreifend Lösungsansätze finden. Müsste sich diese Arbeitsgruppe nicht hier ihre Hauptaufgabe aussuchen?
Laschett: Das ist eine Aufgabe. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit nur eine Folge. Warum sind so viele ohne Ausbildungsplatz und Arbeitsplatz? Weil sie oft keinen Schulabschluss haben. Und das ist eine Folge ihrer mangelnden Sprachkenntnis. Deshalb ist aus meiner Sicht der Schlüssel die Sprache. Aber der zweite Schlüssel ist dann, im Übergang von der Schule in den Ausbildungsplatz ebenfalls Hilfestellung zu leisten. Diese interministerielle Arbeitsgruppe wird vom Integrationsministerium geleitet. Der Arbeits- und Sozialminister sitzt mit seinen Fachleuten dabei wegen der sozialen und Arbeitsmarktfragen. Der Städtebauminister sitzt dabei wegen der Städtebauplanung, die verhindern muss, dass Ghettos entstehen. Die Schulministerin sitzt dabei wegen des muslimischen Religionsunterrichtes. Die Wirtschaftsministerin sitzt dabei wegen der Gründungsforen oder was sonst unterstützt werden muss. Jedes Ressort muss seinen Beitrag leisten und wir versuchen daraus eine Integrationspolitik zu machen, die dann die gesamte Landesregierung betrifft.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben einmal gesagt, Deutschland hat in dieser ganzen Zuwanderungs- und Integrationsgeschichte eine Generation verloren. Maria Böhmer, die Staatssekretärin für Migration im Kanzleramt, hat gesagt, 40 Prozent eines Jahrgangs bleiben ohne schulische und berufliche Qualifikation. Das ist ja ein äußerst deprimierendes Fazit. Dass Sie bei den Vierjährigen ansetzen, in allen Ehren, aber was machen wir mit den heute 25-Jährigen?
Laschett: Da haben wir nur die Möglichkeit, mit den Fördermaßnahmen, die der Arbeitsmarkt für schlecht Ausgebildete, für Ohne-Abschluss-die-Schule-Verlassende Angebote zu schaffen, wie man in den Arbeitsmarkt wieder hineinkommt. Das tut ja auch die Bundesagentur für Arbeit in vielen Dingen. Aber es ist natürlich ein viel schwierigerer, mühsamer Prozess. Ich habe das verlorene Generation genannt, denn hätten wir vor 20 Jahren erkannt, dass wir eine aktive Integrationspolitik brauchen, und hätten wir nebenbei auch erkannt, dass wir ein Zuwanderungsland sind, dann hätte vieles von dem, was wir heute erst beginnen, längst geschehen sein können und dann wären uns die 20 Jahre nicht verloren gegangen.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie nicht die Sorge, dass wir da auf einer tickenden Zeitbombe sitzen?
Laschett: Tickende Zeitbombe ist vielleicht etwas zu dramatisch, aber wir können es nicht einfach so hinnehmen, sondern müssen uns auch dieser Generation und dieser Altersgruppe widmen.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Laschet.
Armin Laschett: wird am 18. Februar 1961 in Aachen geboren. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in München und Bonn, Erstes Juristisches Staatsexamen vor dem Oberlandesgericht Köln, Ausbildung zum Journalisten, freie journalistische Tätigkeit für bayerische Rundfunksender und das Bayerische Fernsehen. Wissenschaftlicher Berater der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth. Chefredakteur, Geschäftsführer und Verlagsleiter der Einhard-Verlags GmbH. 1989 - 2004 Ratsherr der Stadt Aachen, seit 1991 stellvertretender Vorsitzender des CDU-Bezirksverbandes Aachen, 1994 - 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 1999 Lehrbeauftragter des Europastudienganges der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen. 1999 - 2005 Mitglied des Europäischen Parlaments. Seit 2001 Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Aachen. Seit 2005 Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.
Deutschlandradio Kultur: Fühlen Sie sich nicht einsam, wie sich die Avantgarde sich doch immer ein bisschen einsam gefühlt hat?
Laschett: Nein, bisher fühle ich mich nicht einsam, zumal es auf diese Themen auch außerhalb des Hauses ein sehr positives Echo gibt. Ich wünsche mir manchmal, dass man in anderen Bundesländern auch schon ein ähnliches Ministerium hätte. Dass man ein paar Kollegen hätte, mit denen man intensiver daran arbeiten könnte. Es gibt ein paar, die das machen, aber das ist dann sehr verteilt in anderen Landesregierungen. Vielleicht können wir andere auch ermutigen, so etwas auch zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Zum positiven Echo sind bei mir ein paar Zweifel vorhanden. Ausgerechnet Ihr Ressort hat ja bei den Haushaltsverhandlungen verloren, obwohl 2006 laut Aussage Ihres Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers das "Jahr des Kindes" ist und Sie aus Nordrhein-Westfalen das "kinder- und familienfreundlichste Bundesland" machen wollen. Die Landesregierung will laut Städtetag-Geschäftsführer Stephan Articus im Haushalt 2006 zum Beispiel bei der Kindergartenförderung 120 Millionen Euro einsparen. Das ist doch peinlich, oder?
Laschett: Es sind im Bereich der Kindertagesstätten 104 Millionen, davon sind 72 Millionen ein Trägerkonsolidierungsbeitrag, den es auch schon in den letzten zwei Jahren gab, der eigentlich abgeschafft werden sollte und den wir jetzt nicht abschaffen können, sondern einfach fortschreiben. Das Zweite ist, wir schaffen etwas ab, was hier in Nordrhein-Westfalen etwas ganz Besonderes ist, das es in keinem anderen deutschen Bundesland gibt - ein Elternbeitragsdefizit-Ausgleichsverfahren. Man hört schon am Wort, dass das wahrscheinlich etwas ganz Unbürokratisches ist ... Nein, es ist ein komplizierter Prozess. Den schaffen wir ab. Die Kommunen setzen demnächst selbst die Elternbeiträge fest. Das Land gleicht komplizierte Differenzen nicht mehr aus. Und das sind 42 Millionen Euro weniger im Landeshaushalt.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ein Beispiel, aber insgesamt ist es doch wahr, dass Ihr Ressort bei den Haushaltsberatungen Geld hergeben musste.
Laschett: Jedes Ressort musste Geld hergeben. Ich habe ja an dem Beispiel gerade klar gemacht: Wir erwarten von den Trägern 72 Millionen und von den Kommunen diese 42. Das ist alles, was im Bereich des Kindergartengesetzes passiert. Alle Ressorts geben 20 Prozent ab - quer durch den Haushalt. Wir sind im Ergebnis mit diesen Zahlen nur bei 11 Prozent. Wenn Sie dann noch Schule dazu nehmen, was ja ebenfalls für Bildung, für Kinder ist, kommen Kinder - und das war ja die Aussage, das wird das Jahr des Kindes - mit diesem Haushalt besser weg als jedes andere Ressort, von Straßen über Wirtschaft, über Arbeit.
Deutschlandradio Kultur: Deutschland steht ja wirklich einzigartig da in der Europäischen Union: die niedrigste Geburtenrate, die wenigsten Betreuungsplätze, die wenigsten Ganztagsschulen, die niedrigste Frauenerwerbsquote in der EU. Es liegt offenbar nicht daran, dass es zu wenig Geld für die Familien gibt, das sind immerhin jährlich über 60 Milliarden Euro, andere Berechnungen ergeben sogar 100 Milliarden, sondern es liegt daran, wofür es ausgegeben wird.
Laschett: Richtig. Wir geben das meiste Geld aus und haben die geringste Geburtenrate. Das Ergebnis ist, irgendwas von dem Geld wird wahrscheinlich nicht so eingesetzt, dass es Familien darin ermutigt, auch Ja zu Kindern zu sagen. Deshalb finde ich es richtig, was die Bundesfamilienministerin jetzt vorhat, nämlich alle Leistungen einmal auf den Prüfstand zu stellen, einmal genau zu analysieren, ob das Geld genau bei denen ankommt, die es eigentlich bekommen sollten. Ich finde, da müssen wir auch mal über den Schatten Bund-Länder springen. Es ist dann auch nicht damit getan, dass man sagt: Da ist ja der Bund zuständig oder gar die Länder. Man muss gucken: Wie setzen wir diese 100 Milliarden, die viel, viel Geld sind, besser für Familien und für Kinder ein?
Deutschlandradio Kultur: Man kann es ja aufschlüsseln. Zum Beispiel kostet das berühmte Ehegattensplitting, bei dem Ehepaare steuerlich bevorzugt werden, wenn ein Partner, im Allgemeinen der Mann, viel verdient und der andere Partner, im Allgemeinen die Frau, wenig verdient, 22 Milliarden Euro. Für die Kinderbetreuung werden aber nur acht Milliarden ausgegeben. Wäre es nicht sinnvoll, endlich mal an dieses Ehegattensplitting heranzugehen?
Laschett: Ich weiß nicht, ob man nun gerade das so gegen rechnen kann. Familien haben Einkommen. Die werden im Ehegattensplitting addiert und gemeinsam versteuert. Das ist ja der Sinn des Ehegattensplittings.
Deutschlandradio Kultur: Aber das Ehegattensplitting bevorteilt jedes Paar, egal, ob es Kinder hat oder nicht.
Laschett: Das ist wahr. In der Verfassung steht, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz stehen. Deshalb ist diese Lebensgemeinschaft eine Ehe, die der Staat durch dieses Splitting besonders unterstützt.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem stimmt mit dem Betreuungsangebot in Deutschland etwas nicht. Müsste sich die Familienförderung in Deutschland nicht grundsätzlich neu orientieren und sagen: Wir gehen von der direkten materiellen Förderung, also vom Kindergeld, weg, hin zu mehr besserer Betreuung?
Laschett: Ja, das stimmt. Die Familienbetreuung stimmt bei uns nicht, besonders in Nordrhein-Westfalen nicht. Wir haben 2,8 Prozent Plätze für unter Dreijährige. Das ist eine ganz schlechte Ausgangsbasis. Ich glaube in der Tat, dass junge Familien heute ihre Entscheidung ganz wesentlich davon abhängig machen, ob sie Ja sagen zu Kindern oder nicht, ob Familie und Beruf miteinander vereinbar sind. Das führt zum einen dazu, dass man die Entscheidung für Kinder immer weiter hinausschiebt, im Vergleich zu allen anderen Ländern, wo man viel früher auch Kinder bekommt, weil man weiß, man kann wieder in den Beruf einsteigen. Das ist eine Besonderheit in Deutschland. Das hängt ganz entscheidend am Kinderbetreuungsangebot.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, Kindergeld kürzen und dafür Betreuungsangebot ausbauen?
Laschett: Ich habe letztens mal eine Summe genannt, nur um mal die Größenordnung klarzumachen: Wenn wir das Kindergeld um zehn Euro kürzen würden - ich sage es im Konjunktiv, das ist kein Gesetzesvorschlag, aber um die Dimension klarzumachen -, hätten wir 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung, die man entweder in Betreuung einsetzen könnte oder beispielsweise mit einem Schlag alle Kindergärten frei machen könnte.
Deutschlandradio Kultur: Würde, hätte, könnte - hielten Sie, halten Sie das für sinnvoll?
Laschett: Ich halte das in dem, was Frau von der Leyen jetzt alles überprüfen will, für eine ganz wichtige Idee, zu sagen: Vielleicht weniger an Barleistungen und mehr in Betreuung; so wie Ihre erste Frage ja auch lautete: Brauchen wir nicht mehr Betreuung und weniger Barleistung?
Deutschlandradio Kultur: Die Bundesministerin von der Leyen will ja auch das Elterngeld ab dem kommenden Jahr einführen. Das heißt, der Elternteil, der das Kind betreut, bekommt zwölf Monate lang zwei Drittel seines früheren Einkommens. Zwölf Monate lang gibt es das allerdings nur, wenn auch der Vater zwei von diesen Monaten nimmt. Sonst gibt es das nur zehn Monate lang, weil im Allgemeinen ja die Mutter zu Hause bleibt. Nun kann man doch fragen: Was geht es eigentlich den Staat an, wie die Eltern untereinander die Betreuung aufteilen?
Laschett: Das ist eine gute Frage. Erst recht sollte man sich die im 21. Jahrhundert stellen, wo man ja von mündigen Paaren und mündigen Menschen ausgeht. Wenn das ein Beitrag dazu wäre, dass vielleicht Väter und Mütter neu über ihre Aufgabenverteilung nachdenken, und wenn es ein Anreiz auch für Arbeitgeber wäre, so wie es ja begründet wird, sich auch vorstellen zu können, dass Männer einmal eine Elternzeit nehmen, dann würde ich es für gerechtfertigt halten. Die Erfahrungen in Skandinavien, wo das ja praktiziert wird, sind allerdings die, dass das vielfach einfach als verlängerter Jahresurlaub genommen wird und dass sich danach an der Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen eigentlich nichts ändert. Wenn es so ist, wäre das erneut Geld in ein System gegeben, wo es nicht das erreicht, was man erreichen will. Das Elterngeld hat manches für sich. Ich finde es sind viele, viele Fragen noch unbeantwortet, wie es beispielsweise mit Alleinerziehenden geht.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei diesen Väter-Monaten. Halten Sie die für zulässig oder nicht?
Laschett: Wenn damit die Absicht verbunden ist, wir müssen jetzt die, die eigentlich nicht so weit sind, umerziehen, so wie es am Anfang begründet wurde, dann finde ich es falsch. Das ist nicht Sache des Staates. Ich glaube, dass die Leute heute mündig genug sind. Ich halte das für falsch. Wenn es ein Anreiz ist für Väter und Arbeitgeber, etwas in Anspruch zu nehmen, was sie nur deswegen nicht tun, weil unsere Arbeitswelt so ist, dann könnte ich dem etwas abgewinnen - aber nicht als Umerziehungsprogramm des Bundes.
Deutschlandradio Kultur: Aber da gibt es so etwas wie einen Richtungsstreit in der Union, was dieses Thema angeht. Die Familienministerin von der Leyen will es vor allem berufstätigen Paaren erleichtern Eltern zu werden. Und viele in der Union sorgen sich, dass die traditionelle Hausfrauen-Ehe benachteiligt wird. Steht die Union da vor einer Zerreißprobe oder eher vor einer grundlegenden Neuausrichtung?
Laschett: Ich glaube nicht, dass wir uns neu ausrichten müssen, da wir in den 80er Jahren als Union ja schon mal durchgesetzt haben, damals erdacht von Heiner Geisler und Rita Süßmuth, dass Arbeit sowohl Erziehungsarbeit als auch Erwerbsarbeit sein kann und dass sie gleichwertig ist, dass der, der sich für Erziehungsarbeit entscheidet, das auch in der Rentenversicherung anerkannt bekommt. Insofern sollte die Politik weder nur auf die Berufstätigkeit noch auf die - wie Sie es nennen - Hausfrauen-Ehe setzen, sondern es als Wahlfreiheit Paaren möglich machen, wie sie das selbst organisieren. Und wenn jemand sagt, ich möchte ein, zwei, drei Jahre meine Kinder erziehen, sollte der Staat nicht der sein, der sagt, nein, wir organisieren das System aber so, dass du so schnell wie möglich in den Beruf zurückgehst. Interessanterweise haben wir übrigens im Landtag hier die Unterstützung der Grünen, die exakt gesagt haben: Was Frau von der Leyen macht ist falsch. Kinderbetreuung muss der erste Schwerpunkt sein, um in dem modernen Familienbild den Wiedereinstieg in den Beruf zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu ermöglichen. Was hilft Ihnen das, wenn Sie zehn Monate Elterngeld haben, aber dann immer noch keinen Betreuungsplatz für Ihr Kind haben? Das ist eine vollkommen falsche Schwerpunktsetzung.
Deutschlandradio Kultur: Wir waren jetzt aber bei der Hausfrauen-Ehe, wo Sie genau wie die konservativen Kreise in der Union sagen, die dürfen wir nicht diskriminieren. Frau von der Leyen will es ja aber berufstätigen Eltern, wo beide berufstätig sind, erleichtern Kinder zu bekommen. Das ist doch ein Unterschied.
Laschett: Da die meisten Menschen, wenn sie heiraten, beide berufstätig sind, geht es nicht darum, ob jemand ...
Deutschlandradio Kultur: Aber sobald ein Kind da ist, ...
Laschett: … dann sagt jemand, ich widme mich jetzt der Erziehungszeit. Väter und Mütter können das. Das ist Wahlfreiheit. Das ist nicht konservativ, sondern das hat hier eine breite Unterstützung über die Union hinaus. Und das finde ich richtig. Ich finde wichtig, dass man Familie und Beruf vereinbar macht, und der, der Berufsarbeit leisten will, dazu auch die Chance haben soll. Aber dass prinzipiell Kinder besser erzogen sind in staatlicher Betreuung als durch jemanden, der sich den Kindern widmet, ist nicht die Position der Union. Das ist nebenbei auch nicht die Position von Frau von der Leyen. Sie sagt nur, ich will eine bestimmte Gruppe ermutigen, die im Moment keine Kinder bekommen.
Deutschlandradio Kultur: Die Akademikerinnen.
Laschett: Ja, aber das ist auch in manchem sozial ungerecht. Deshalb wundert es mich auch, dass die SPD - jedenfalls im Bund - so leidenschaftlich dafür kämpft. Zum ersten Mal in unserer gesamten Familienförderung geben wir mehr Geld für die Rechtsanwältin als für die Rechtsanwaltsgehilfin, wenn sie schwanger wird. Das kann man machen, das ist Skandinavien. Aber mir läge das französische Modell unserer Tradition näher, wo wir sagen: Eine gute Kinderbetreuung, wenn man schon so viel Geld in die Hand nimmt, ist wichtiger als Lohnersatzleistungen auch für besser Verdienende zu bezahlen.
Deutschlandradio Kultur: Eine Lohnersatzleistung orientiert sich aber eben am vorherigen Lohn, wie das Arbeitslosengeld.
Laschett: Das ist richtig, aber das haben wir bei der Familienpolitik bisher nie gemacht. Unser Prinzip war immer: Jedes Kind ist uns gleich viel wert. Das ist ein Systembruch. Das muss man nur wissen. Es gibt Argumente dafür.
Deutschlandradio Kultur: Ein Systembruch, der von Ihrer Partei betrieben wird!
Laschett: Ich weiß es. Deshalb sage ich trotzdem, dass es falsch ist, was da betrieben wird. Das hat Nordrhein-Westfalen deutlich gemacht. Das ist ja gut, dass in so einer Konstellation wie einer großen Koalition die Debatte auch mal quer durch die Reihen geht, dass die Grünen mir zustimmen und Frau von der Leyen nicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Laschet, Sie sagen, die CDU habe lernen müssen, dass Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft ist. Stimmt das? Da lädt zum Beispiel die Berliner CDU zu Diskussionsabenden unter dem Titel "Abschied von Multikulti" ein. Ihr nordrhein-westfälischer Ministerpräsident Jürgen Rüttgers spricht von einer "Lebenslüge von der multikulturellen Gesellschaft" und Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt, Multikulti sei dramatisch gescheitert. Offenbar hat die CDU ihre Lektion ja doch noch nicht richtig gelernt, oder?
Laschett: Ich glaube, das ist vor allem ein Streit um Worte. Dass wir de facto eine multikulturelle Gesellschaft sind, man kann auch sagen, dass viele Kulturen, multi heißt lateinisch viele, bei uns leben, werden weder die von Ihnen eben zitierten, noch sonst irgendjemand in diesem Lande bestreiten können. Dass unterschiedliche Religionen in Deutschland leben und auf Dauer hier leben werden, wird kaum jemand bestreiten können. Insofern kann man das multikulturelle Gesellschaft nennen. Man kann das anders formulieren, man kann drum herum reden. Man kann sagen, ein Leben vieler Kulturen, man kann interkulturell sagen, das ist das neue Modewort, was multikulturell ersetzen soll, weil es ein Kampfbegriff ist. Ich nenne es so, weil es die Wirklichkeit im Lande widerspiegelt. Das ist was anderes als multikulti. Wenn sich die Union sich da ändern musste, dann musste sich die Linke beim Thema multikulti ändern. Multikulti heißt nicht, jeder kann aus seiner Kultur alles rechtfertigen. Multikulti heißt auch, es ist nett und bunt und es gibt keine Probleme damit. Und das meint unser Ministerpräsident, wenn er sagt, diese Illusion ist gescheitert, dass das alles reibungslos ist und das Leben nur bereichert. Es bringt Probleme. Wir müssen Anforderungen benennen. Zu den Anforderungen gehört die Einhaltung des Grundgesetzes. Und dass wir heute das erste Mal auch unter Zuwanderern selbst über so eine Frage wie Zwangsverheiratung von Mädchen, "Ehrenmorde" und so weiter offen sprechen, zeigt, dass wir da lange Jahre auch vieles verdrängt haben.
Deutschlandradio Kultur: Gut, dann nehmen wir jetzt nicht diesen Kampfbegriff, sondern sagen, die kulturelle Vielfalt in Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen, dauerhaft haben Sie gerade gesagt, als sei das selbstverständlich. Es ist doch Ihrer Partei sehr lange sehr schwer gefallen anzuerkennen, dass Deutschland - um es anders zu nennen - ein Einwanderungsland ist. Nun haben Sie gesagt, Herr Laschet, als es um die Debatten um Leitkultur ging, wir könnten auch, also wir Nichtmigranten, von den Migranten lernen, zum Beispiel wie man sich besser um die Alten kümmert, wie man kinderfreundlicher wird, kurz den Familienzusammenhalt. Auf der anderen Seite ist es aber doch so, dass dieser von Ihnen so gelobte Familienzusammenhalt ja meist auf sehr strikten Regeln und starren Rollenbildern beruht, die häufig vom Islam diktiert werden. Können wir das auch lernen?
Laschett: Nein, natürlich können wir das nicht lernen. Die Frage ist, wenn wir über Leitkultur sprechen: Meint das etwas, das über das Grundgesetz hinausgeht? Es debattiert, glaube ich, kein Mensch mehr darüber, dass einer aus seiner Kultur heraus Verletzungen von Frauenrechten oder anderes rechtfertigen und sagen könnte, weil das in meiner Kultur üblich ist, steht das über dem Grundgesetz. Das vertritt niemand mehr, also ist das Grundgesetz und die Rechtsordnung des Landes die Basis des Zusammenlebens. Aber das reicht nicht. Das Grundgesetz ist etwas nicht sehr Emotionales, mit dem man sich identifiziert. Deshalb brauchen wir die Leitkultur und die Leitkultur sollte eine gemeinsame sein. Es kann keine sein, wo wir Deutschen vorgeben: Leitkultur ist, dass jeder Karneval feiern muss oder im Schützenvereinen organisiert sein muss. Sondern Leitkultur meint: Was sind Werte, die wir gemeinsam teilen? Das kann nur eine gemeinsame werden, wenn wir den Zuwanderern auch eine Chance geben, ihren Beitrag zu leisten.
Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns noch mal zurückkommen zu dem, was wir von den Migranten lernen können.
Laschett: Wenn Sie sagen, wir wollen eine gemeinsame Leitkultur, heißt das ja, dem anderen müssen Sie auch die Möglichkeit geben, ebenfalls beizutragen. Welche Werte haben Zuwanderer, die wir verlernt haben? Da habe ich gesagt, zum Beispiel das Zusammenleben der Generationen ist etwas, was bei Zuwanderern stärker als bei uns gelebt wird, dass die Kinder für die Eltern und die Kinder auch für die Eltern einstehen bis ins hohe Alter. Den Familienzusammenhalt habe ich ebenfalls erwähnt. Was Sie beschreiben, ist natürlich völlig richtig. Es geht nicht, dass der 15-jährige Bruder seiner Schwester sagt, welchen Freund sie dann zu nehmen hat, wenn sie sich einen Freund sucht. Da geht mir bei manchen Zuwanderern der Familienzusammenhalt ein Stückchen zu weit. Aber dass sie als Familie noch besser zusammenhalten als wir, dass wir ernsthaft bei Hartz IV diskutiert haben, ob man ab dem 25. Lebensjahr nicht mehr für seine Eltern einstehen muss, das zeigt, dass wir da von Zuwanderern - nebenbei auch von Aussiedlern - noch was lernen können.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, es sollen beide Parteien, die Mehrheitsgesellschaft und die Zuwanderer, die Migranten und die Deutschen sollen zusammen eine gemeinsame Leitkultur entwickeln. Von Migranten soll der stärkere Familienzusammenhalt beispielsweise kommen. Was soll denn dann von den Deutschen kommen?
Laschett: Ich habe lange Zeit nicht verstanden, was eigentlich eine deutsche Leitkultur sein soll. Was ist ein spezieller deutscher Wert? Den erkenne ich nicht. Alle Werte, die wir haben, sind - wenn - europäische Werte, die sich auch in der Europäischen Verfassung niedergeschlagen haben. Das ist ein jüdisch-christliches Wertegebilde, das auch im Grundgesetz Einfluss genommen hat, das ist die Aufklärung, die Französische Revolution, das ist das, was wir einbringen in diese Debatte. Ich glaube aber, das ist eine europäische Debatte, keine deutsche Debatte. Ich glaube, dass es trotzdem auch besondere deutsche Merkmale gibt. Zum Beispiel finde ich, dass wir wie kein anderes Land in Europa aufgrund unserer Geschichte sensibler sind bei jeglicher Form von Antisemitismus, so dass der, der Deutscher wird, auch wissen muss, dass Deutsch nicht nur Goethe und Beckenbauer ist, sondern auch Holocaust, schreckliche Kapitel der Geschichte. Da kann ein Zuwanderer nicht sagen: Damit habe ich nichts zu tun, ich bin eingewandert. Wenn er Deutscher wird, gehört das auch mit zu seiner Geschichte. Ich glaube, das ist das, was wir da einbringen können.
Deutschlandradio Kultur: Die Kenntnis der deutschen Sprache ist der Schlüssel zur Integration, haben Sie einmal gesagt. Deshalb müssen jetzt alle Kinder mit vier Jahren einen Sprachtest machen in Nordrhein-Westfalen. Aber was passiert, wenn die Kinder diesen Sprachtest nicht bestehen?
Laschett: Wir haben gesagt, jedes Kind, das in die Schule kommt, muss Deutsch sprechen. Das ist die Zielsetzung, weil die PISA-Ergebnisse zeigen, Zuwandererkinder haben die schlechtesten Bildungschancen in unserem Land. Damit kann man sich nicht abfinden. Das beginnt damit, dass man im ersten Schuljahr die Sprache nicht spricht. Damit ist klar, man ist auch in Fächern wie Mathematik schlechter. Der Weg in die weiterführende Schule ist vorgezeichnet. Dort hat man am Ende keinen Abschluss und wandert in die Sozialsysteme. Deshalb muss man so früh wie möglich bei den Kindern beginnen. Das wird zurzeit in Crash-Kursen gemacht, wo man dann knapp bei der Schuleingangsuntersuchung untersucht, ob das Kind Deutsch kann. Wenn es das nicht kann, muss es in spezielle Sprachkurse. Aber Kinder sind keine Manager, die man in Crash-Kurse schickt, sondern bei Kindern muss man es spielend mit anderen Mitteln lehren. Deshalb ziehen wir diesen Schuleingangstest auf das vierte Lebensjahr vor. Dann wird zwei Jahre im Kindergarten Sprache mit den Mitteln des Kindes gefördert.
Deutschlandradio Kultur: Muss es das machen? Was ist, wenn die Eltern sagen: Nö?
Laschett: Das haben wir ja heute auch schon. Wenn es den Crash-Kurs nicht macht und die Eltern sagen Nö, gibt es im Zusammenhang mit der Schulpflicht die üblichen Probleme, so wie wenn einer sagt, ich schicke mein Kind nicht in die Schule.
Deutschlandradio Kultur: Konkret: ein Vierjähriger besteht diesen Sprachtest nicht. Ihm wird gesagt: Du gehst jetzt in den Kindergarten und machst Sprachförderung! Die Eltern sagen: Nein, das Kind geht nicht in den Kindergarten Was passiert dann?
Laschett: Es passiert dann das, was auch bei dem passiert, der nicht in die Schule geht. Er wird notfalls in den Kindergarten gebracht. Das ist rechtlich eine vorgeschaltete Schulpflicht.
Deutschlandradio Kultur: In der Berliner CDU wird darüber nachgedacht, Migranten, die sich einer solchen Sprachförderung verweigern, zu bestrafen. Was halten Sie davon?
Laschett: Was heißt bestrafen? Werden die eingesperrt oder Ordnungsgelder verhängt? Ich weiß nicht, was die da in Berlin erörtern. Bei uns geht es darum, dass die Kinder die Sprache erlernen. Das wird so durchgesetzt wie bei der Schulpflicht auch. Eine Strafe hilft da nicht viel weiter. Es geht ja darum, dass das Kind spricht und die Sprache lernt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Laschet, eines der wichtigsten Integrationshindernisse ist hierzulande die hohe Arbeitslosigkeit bei Zuwanderern. Nun sind Sie ja weder Arbeitsminister, noch Wirtschafts-, noch Bildungsminister, aber trotzdem wiegt dieses Problem sehr viel schwerer als die Sprachkurse und die Begegnungsstätten, die Sie so anbieten können für Ihr Klientel. Sie haben ja hier in Nordrhein-Westfalen eine interministerielle Arbeitsgruppe Integration gegründet. Die soll ressortübergreifend Lösungsansätze finden. Müsste sich diese Arbeitsgruppe nicht hier ihre Hauptaufgabe aussuchen?
Laschett: Das ist eine Aufgabe. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit nur eine Folge. Warum sind so viele ohne Ausbildungsplatz und Arbeitsplatz? Weil sie oft keinen Schulabschluss haben. Und das ist eine Folge ihrer mangelnden Sprachkenntnis. Deshalb ist aus meiner Sicht der Schlüssel die Sprache. Aber der zweite Schlüssel ist dann, im Übergang von der Schule in den Ausbildungsplatz ebenfalls Hilfestellung zu leisten. Diese interministerielle Arbeitsgruppe wird vom Integrationsministerium geleitet. Der Arbeits- und Sozialminister sitzt mit seinen Fachleuten dabei wegen der sozialen und Arbeitsmarktfragen. Der Städtebauminister sitzt dabei wegen der Städtebauplanung, die verhindern muss, dass Ghettos entstehen. Die Schulministerin sitzt dabei wegen des muslimischen Religionsunterrichtes. Die Wirtschaftsministerin sitzt dabei wegen der Gründungsforen oder was sonst unterstützt werden muss. Jedes Ressort muss seinen Beitrag leisten und wir versuchen daraus eine Integrationspolitik zu machen, die dann die gesamte Landesregierung betrifft.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben einmal gesagt, Deutschland hat in dieser ganzen Zuwanderungs- und Integrationsgeschichte eine Generation verloren. Maria Böhmer, die Staatssekretärin für Migration im Kanzleramt, hat gesagt, 40 Prozent eines Jahrgangs bleiben ohne schulische und berufliche Qualifikation. Das ist ja ein äußerst deprimierendes Fazit. Dass Sie bei den Vierjährigen ansetzen, in allen Ehren, aber was machen wir mit den heute 25-Jährigen?
Laschett: Da haben wir nur die Möglichkeit, mit den Fördermaßnahmen, die der Arbeitsmarkt für schlecht Ausgebildete, für Ohne-Abschluss-die-Schule-Verlassende Angebote zu schaffen, wie man in den Arbeitsmarkt wieder hineinkommt. Das tut ja auch die Bundesagentur für Arbeit in vielen Dingen. Aber es ist natürlich ein viel schwierigerer, mühsamer Prozess. Ich habe das verlorene Generation genannt, denn hätten wir vor 20 Jahren erkannt, dass wir eine aktive Integrationspolitik brauchen, und hätten wir nebenbei auch erkannt, dass wir ein Zuwanderungsland sind, dann hätte vieles von dem, was wir heute erst beginnen, längst geschehen sein können und dann wären uns die 20 Jahre nicht verloren gegangen.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie nicht die Sorge, dass wir da auf einer tickenden Zeitbombe sitzen?
Laschett: Tickende Zeitbombe ist vielleicht etwas zu dramatisch, aber wir können es nicht einfach so hinnehmen, sondern müssen uns auch dieser Generation und dieser Altersgruppe widmen.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Laschet.
Armin Laschett: wird am 18. Februar 1961 in Aachen geboren. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in München und Bonn, Erstes Juristisches Staatsexamen vor dem Oberlandesgericht Köln, Ausbildung zum Journalisten, freie journalistische Tätigkeit für bayerische Rundfunksender und das Bayerische Fernsehen. Wissenschaftlicher Berater der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth. Chefredakteur, Geschäftsführer und Verlagsleiter der Einhard-Verlags GmbH. 1989 - 2004 Ratsherr der Stadt Aachen, seit 1991 stellvertretender Vorsitzender des CDU-Bezirksverbandes Aachen, 1994 - 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 1999 Lehrbeauftragter des Europastudienganges der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen. 1999 - 2005 Mitglied des Europäischen Parlaments. Seit 2001 Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Aachen. Seit 2005 Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.