Las Tesis: "Un violador en tu camino"

Aus der Masse für die Masse

06:40 Minuten
Das Bild zeigt ein Frauenkollektiv, die mit verbundenen Augen, die ausgeschreckten Arme und Zeigefinger auf den Betrachter richten.
Der anklagende ausgestreckte Zeigefinger ist zum Symbol für den Protest der Frauen geworden - ob in Rom, Sydney, New York oder Hamburg. © imago images / Pacific Press Agency
Sonja Eismann im Gespräch mit Andreas Müller · 11.12.2019
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Das feministische Kollektiv "Las Tesis" hat eine Massenbewegung initiiert. Ihr Sprechgesang "Un violador en tu camino" ist eine Anklage gegen sexualisierte Gewalt. Ist das Pop? Ganz klar ja, meint die Journalistin Sonja Eismann.
Andreas Müller: Wie politisch ist Popmusik? Auf diese immer wieder hitzig debattierte Frage gibt es seit einigen Wochen überraschend neue Antworten. Überraschend, weil der Song, um den es geht, nicht aus den USA oder UK oder einer anderen westlichen Industrienation, sondern aus Chile kommt. Und weil es eigentlich gar kein Song ist, sondern eine öffentliche Massenperformance von Frauen, die lautstark gegen sexualisierte Gewalt protestieren.
"Un violador en tu camino", ein Vergewaltiger auf deinem Weg, wurde vom feministischen Kollektiv Las Tesis aus der chilenischen Studentenstadt Valparaíso am 20. November zum ersten Mal öffentlich aufgeführt. Seitdem hat die Protesthymne sich wie ein Lauffeuer um die ganze Welt verbreitet. Wir sprechen jetzt mit Sonja Eismann, Herausgeberin des Missy Magazine, darüber, wie Pop und Politik hier zusammenfinden. Frau Eismann, worum geht es in diesem Song, der ja eigentlich kein Song ist?
Sonja Eismann: Hier wird mit sehr klaren, einfachen Worten Gewalt gegen Frauen angeprangert, eine patriarchale Vergewaltigungskultur. Mit Zeilen wie "Das Patriarchat ist ein Richter, der uns verurteilt von Geburt" wird auf die Verquickung von häuslicher und staatlicher, von individueller und struktureller Gewalt hingewiesen.
Es geht um Femizide, also die Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, deren Zahlen vor allem in Lateinamerika, aber auch bei uns ungemindert hoch sind. Ein Höhepunkt des Liedes, ein emotionaler Ausbruch, ist jeweils die Stelle, an der es heißt: "Und es war nicht meine Schuld / Wo ich war oder was ich trug!" Denn viel zu oft wird immer noch Frauen selbst die Schuld daran gegeben, wenn sie Gewalt erfahren, im so genannten "Victim Blaming".
Darüber geraten die Teilnehmerinnen an den Performances auch körperlich in Rage, wenn sie die erniedrigenden Posen nachahmen, in die sie bei polizeilichen Untersuchungen gezwungen werden.
Das Bild zeigt ein Frauenkollektiv, die mit verbundenen Augen, die ausgeschreckten Hände zu einem Dreieck formen.
Bei den Demonstrationen gegen sexualisierte Gewalt gibt es eine Choreographie, die weltweit nachgeahmt wird.© imago images / Pacific Press Agency
Müller: Inwiefern ist das Pop?
Eismann: Also erst einmal natürlich im wörtlichen Sinne, weil es populär ist: Aus der Masse für die Masse. Es ist dieses rauschhafte Erlebnis des Kollektivs, das sich in seiner gemeinsamen Ablehnung des Bestehenden einig ist.
Auch sonst ist alles da, was es braucht: Es gibt eine neue Choreographie, die weltweit nachgeahmt wird, es gibt Dresscodes wie Augenbinden und knappe Kleider, und es gibt zahllose Remixe, die im Internet kursieren.
Es werden hier aber auch zwei Dinge noch einmal sichtbar, die für zeitgenössischen globalen Pop charakteristisch sind: Dass hierarchische Vermittlungsformate und -instanzen wie Labels, Alben oder PR durch eine weltweite Vernetzung längst hinfällig geworden sind, und dass Pop seinen emanzipatorischen Anspruch dadurch endgültig ernst nehmen kann.
Müller: Was ist seit dem 20. November passiert?
Eismann: Las Tesis hatten sich bereits letztes Jahr gegründet und ihr Aktivismus ist natürlich auch im Kontext der seit Oktober anhaltenden Proteste gegen die soziale Spaltung in Chile zu sehen. Am 25. November wurden sie mit ihrer Performance nach Santiago eingeladen, und von da ab verbreitete sich "Un violador" rasant um den ganzen Globus.
Es gab Aufführungen in anderen lateinamerikanischen Städten, in New York, in Paris, in Hamburg, in Indien und Australien und an noch viel mehr Orten. Vor einigen Tagen wurde eine Performance des Songs in Istanbul gewaltsam von der Polizei aufgelöst, weil der Text des Liedes angeblich "inakzeptabel" sei - und einigen Teilnehmerinnen drohen nun angeblich sogar Gefängnisstrafen.
Müller: Las Tesis beziehen sich explizit auf die Schriften von Rita Segato, einer argentisch-brasilianischen feministischen Anthropologin. Wie lässt sich feministische Theorie in Pop übersetzen?
Eismann: Das Kunstkollektiv hatte sich mit dem expliziten Anspruch gegründet, feministische Theorie mit seinen Aktionen für eine breite Masse verständlich zu machen und in einfache Worte und Handlungen zu übersetzen. Rita Segato ist mit ihrem dekolonial und indigen geprägten Feminismus in Lateinamerika eine Art Popstar. Ihre Theorien zu Vergewaltigung als strategischem Mittel männlichen Machterhalts analysieren sehr genau das, was die Frauen tagtäglich erleben.
Sie eignen sich daher perfekt für einen solchen Protestsong. Aber auch früher schon haben wir bei Bands wie zum Beispiel "Le Tigre" oder "Pussy Riot" erlebt, wie sich komplexe feministische Inhalte in Popformate übertragen lassen: mit mitreißenden Slogans für den aktivistischen Moment und mit Theorieverweisen zum reflektierten Nachlesen.
Müller: Was denken Sie: wäre ein ähnliches Phänomen auch von Deutschland ausgehend denkbar?
Eismann: Theoretisch ja, denn die Karriere vom hierzulande einst so verhassten Feminismus in den letzten Jahren lässt mich mittlerweile viel für möglich halten. Praktisch kann ich es mir jedoch nicht so recht vorstellen, denn Deutschland ist weder das Land feuriger Massenproteste noch gibt es hier eine starke Verbindung zwischen Pop und Politik.
Dass wie in England ein Popstar vom Kaliber eines Stormzy für den Labourkandidaten Werbung macht, wäre innerhalb der hiesigen Poplandschaft und vor allem in Bezug auf die SPD kaum denkbar. Zudem ist die feministische Bewegung in Lateinamerika so unglaublich engagiert und kämpferisch, dass Feministinnen hier von einer ähnlichen Mobilisierungskraft nur träumen können.
Aber ich finde es ehrlich gesagt sehr schön, wenn wir hier im vermeintlichen Zentrum der Welt uns von den vermeintlichen Rändern zeigen lassen, wie Pop und Aktivismus zusammengehen.
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