Langsame Annäherung

Marie-Luise Kaschnitz war so etwas wie das lyrische Gewissen der Bundesrepublik in den sechziger Jahren. Der 34 Jahre jüngere Autor Christoph Meckel war von ihr abgestoßen und fasziniert zugleich. Wie aus der anfänglichen Abneigung eine literarische Seelenverwandtschaft wurde, schildert Meckel in "Wohl denen die gelebt".
Um beide ist es etwas still geworden. Marie-Luise Kaschnitz (1901 bis 1974) war die weibliche Vorzeigefigur der bundesrepublikanischen Literatur in den fünfziger, sechziger Jahren: eine vom Ethos der Verantwortung beseelte Lyrikerin und Prosaautorin, viel gelesen, vielfach ausgezeichnet. Und auch Christoph Meckel, der sich jetzt in einem reizvoll subjektiven Text an sie erinnert, darf als etwas im Abseits unserer Wahrnehmung befindlich bezeichnet werden. Er wurde 1935 in Freiburg geboren, gehörte aber vor allem in den siebziger Jahren zur literarischen Szene des alten West-Berlin, das er allerdings immer wieder verließ, um lange in Frankreich zu leben.

Seine Lyrik- und Prosabände zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie mit Graphiken von ihm versehen sind (wie auch dieses Buch), die auf eine lebenslange Auseinandersetzung dieses Autors auch mit der bildenden Kunst schließen lassen. Im vergangenen Jahr waren seine in naher, schrecklicher Zukunft spielenden "Nachtstücke in Callots Manier", mit E.T.A. Hoffmann zu sprechen, die den Titel "Nachtsaison" trugen, noch einmal ein beachtliches, doch wenig beachtetes Buch.

Am ehesten wird Meckel heute wahrscheinlich mit seinen beiden familienautobiographischen Büchern "Suchbild: mein Vater" und "Suchbild: meine Mutter" assoziiert, in denen er die Verstrickung des unpolitischen Bildungsbürgertums in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts "aufzuarbeiten" versucht, was ihm im Hinblick auf den Vater wesentlich überzeugender gelang als im Hinblick auf seine Mutter.

Das wird in diesem Zusammenhang nicht von ungefähr angemerkt, denn man spürt sehr deutlich in diesen Erinnerungen, dass Meckel auch die Kaschnitz zu einer Art Mutterfigur stilisiert. Zwar hat die 34 Jahre ältere Autorin ihn nicht gefördert, sie konnte ihm wohl überhaupt in literarischer Hinsicht kaum ein Vorbild sein, aber sie gehörte der Schicht an, der auch seine leibliche Mutter entstammt und an der sich Meckel, der sich gern als Hippie, Globetrotter, Bohemien gab, lebenslang gerieben hat: dem deutschen Bürgertum.

So nennt Meckel die große Kollegin auch anfangs nur "die Dame", um seine Distanz zu wahren zu einer Frau, die auf Schlössern wohnte, auf einen gewissen mondänen Lebenszuschnitt Wert legte, zu dem auch eine bürgerliche Kleiderordnung gehörte sowie die Nicht-Beachtung einer Form von Literatur, wie beispielsweise Günter Eich sie schrieb.

Dennoch schrieb sie Texte, die Meckel sehr berührt haben, etwa jenes Gedicht "Vater Feuerwerker", dem die Titel gebenden Zeilen entstammen:

"Wohl denen, die gelebt.
Ehe sie starben."


Meckel entnimmt ihnen ein Plädoyer für das nichtentfremdete, nicht an (bürgerlichen) Existenzschablonen orientierte Leben, und damit kann er sich natürlich gut identifizieren. Auch sonst spielen die Texte, der spielerische Umgang mit ihnen eine große Rolle in den hier geschilderten Begegnungen mit Marie Luise Kaschnitz. Immer war es Meckel, der die berühmte Kollegin besuchte, was die Kaschnitz an ihm fand, wird nicht recht deutlich, mal vermutet Meckel, sie sei einfach amüsiert gewesen von seiner jugendlich-rebellischen Art (um 1970, als die Beziehung beginnt, war er ja erst 35).

Sie wusste damals auch natürlich, dass eine junge Generation sie bereits zum alten Eisen geworfen hatte, die damals kursierenden Bezeichnungen "bürgerlich" und "sentimental", auf sie gemünzt, spielten offenbar auch in den Gesprächen mit Meckel eine Rolle. In diesen Aufzeichnungen nun bildet sich ab, wie Meckel langsam seine innere Reserve der Kaschnitz gegenüber aufgibt. Am Ende ist sie nicht mehr "die Dame", hoheitsvoll, konventionell, selbstbewusst. Am Ende ist sie diejenige, mit der er sich verbunden weiß durch die Lust am Wort. Er begreift - oder hat doch, seit er selbst ein älterer Mensch geworden ist, begriffen, dass ein so "bürgerliches" Literaturkonzept wie "Trost" seine Berechtigung besitzt.

Und so schließt das Büchlein mit der schönen, einfühlsamen Überlegung:

"In dem, was an diesem Abend in ihr und in mir, dem willkommenen Gast, entgegenstimmte, zusammenstimmte, muss etwas Antwortloses gewesen sein, das aus unvergleichbarem Dasein kam und verschiedenem Alter, aber leben und atmen ließ und den Unterschied festhielt. Der helle Respekt für Marie Luise Kaschnitz, die für mich schon lang keine Dame mehr war, hatte sich in Gewissheit für sie verwandelt."

Rezensiert von Tilman Krause

Christoph Meckel: Wohl denen die gelebt. Erinnerung an Marie Luise Kaschnitz
Mit Graphiken des Autors
Libelle Verlag, Lengvil, 2009
64 Seiten, 16, 90 EUR